SPIRITUELLE KRISE 1987/89 und weitere Errinnerungen

 

Wahnsinn?! Oder Spirituelle Krise? - Heilsame
Erfahrungen und ein Rückblick, viele Jahre danach

 

Wahnsinn,
ja es schien vielleicht manischer Wahnsinn, mit dem ich von einem ersten
Casriel-Intensivworkshop am Samstagabend vor dem Totensonntag 1987 nach Hause
zurückkehrte. Marianne, meine damalige Lebensgefährtin, war ja erst noch ganz
angetan von der Kraft, die ich zunächst mitbrachte und die erste Nacht - oh
yeah! Am folgenden Sonntag brach ich morgens auf nach Hannover, um meine
Uraltfreundin Gabi zu besuchen. Was hatte ich ihr nicht alles zu erzählen. Ich
hatte jetzt die Lösung für all die Depressionen gefunden, ich fühlte
mich sooh lebendig. Ich erzählte und erzählte. Anstrengend muss es gewesen
sein. Ich spürte solch eine Kraft in mir, eine Kraft, die ich so von mir nicht
kannte. Endlich spürte ich in mir die Kraft, die ich in mir ahnte und an die zu
glauben ich nie die Hoffnung aufgegeben hatte - sonst hätte ich mich wohl auch
nie auf eine Beziehung mit einer Frau wie Marianne eingelassen. Mit dieser
Kraft hoffte ich nun endlich diese Partnerschaft retten zu können. Endlich
hoffte ich nun stark genug zu sein um den Anforderungen von Lebensgemeinschaft
(mit Marianne und ihren vier Kindern) und Beruf (als Pädagogische Unterrichtshilfe – 
ich war Sozialpädagoge – an einer Schule für Geistig Behinderte)
gerecht zu werden.

 

"Meine latente neurotische Depression war umgeschlagen in
die Kehrseite – in meinem Fall in die manische 
Selbstüberschätzung".

 

So schrieb ich einst. Nach vielen Jahren wird es Zeit diesen alten Bericht umzuschreiben - Mai 2017. So viele Jahre verbrachte ich damit zu verstehen, was damals passierte. Durch die aufdeckende pushend aufdeckende Körpertherapie und im Hintergrund homöopathische Hochpotenzen brach in mir etwas auf, das ich damals nicht zuordnen konnte. Es hatte auch mit der damals weit verbreiteten erlebnisaktivierenden, psychotherapeutischen Vorgehensweise zu tun, die traumatherapeutisches Vorgehen nur unzureichend integrierte. Und ich hatte mich vertrauensselig hineingestürzt...

 

Und es war der erste Umbruch aus einer alten Identität hin in Richtung meines authentischen Selbst. Das alte ICH fing an, aufzubrechen. Es war eine Veränderung meiner scheinbaren Identität - und die begann mit Chaos: wie viele Veränderungen hin zu Individualität - das erkannte schon die Chaosforschung. Und es war  eine Initiatische Krise: Die Initiation in ein neues Leben.

 

Mein alter Bericht soll jedoch hier erstmal seinen Platz haben:

 


 

Liebe,

ich spürte eine Liebe, eine grenzenlose Liebe, zu Marianne, den vier Kindern, zu
Gabi am folgenden Sonntag, zu meinen Schülern, Kollegen in der Schule für
Kranke (Schwer geistig Behinderte). Ich spürte eine Liebe, die mit dem Verstand
nicht zu fassen war. Gleichzeitig begann in mir ein rasendes Denken, wer ich
sei, was die Welt, das Leben sei. Alles bekam seinen Sinn, seine Ordnung. Gut und schlecht waren aufgehoben. Ich schrieb, im nachhinein betrachtet, verworrene Texte, über Heilung, aber auch
ein paar Lieder. Ich war ver – rückt von der Normalität – aber was war es? Was
war los? Wer war ich? In meinen ersten Tagen nach dem Workshop spukten in mir
Gedanken, wie, ich müsste zu etwas Besonderem berufen sein. Bin ich etwa eine
Reinkarnation von Jesus? Ist es meine Berufung, Bundeskanzler zu sein? Ich
schrieb bereits im Lehrerzimmer an einer Kabinettsliste. Aber ich nahm auch
wieder schnell Abschied von solchen Gedanken. Vieles kam und ging.

 

Intensiv war der Kontakt mit den Kindern meiner Partnerin oder auch meinen behinderten
Schülern. Ich war mit einer Konzentration im Unterricht und bei Ihnen, die ich
bis dahin nicht kannte. Ich war so hellwach, aber in den Pausen auch sehr
erschöpft von der Konzentration und auch von meinem vom Unterricht unabhängigen
rasenden Denken. Ein gutes Erlebnis in der Schule war noch die Durchführung der
Weihnachtsfeier. In einem Krippenspiel stellte ich einen Pfarrer dar. Vor
meinem Auftritt setzte ich mich im Nebenraum nieder und betete um Kraft.
Anschließend war ich wieder mit einer vollen Präsenz im Stück. Für meine
Kollegen war ich seltsam, von Erzieherinnen aus den Häusern der Behinderten
bekam ich die Rückmeldung, ich hätte meine Rolle sehr gut gespielt, wie ein
richtiger Pastor! Überhaupt je weniger jemand Lehrer war, umso besser kam ich
mit ihm zurecht. So z.B. mit meinem Kollegen Reinhard. Vor seiner Ausbildung
zum Diakon und Fachlehrer hatte er einen „gewöhnlichen“ Metallberuf und war
sonst schlicht geblieben.


In den Wochen bis Weihnachten spulte innerlich – wahnsinnig – viel ab. Ich weiß noch
anfangs, da schrieb ich auf Karteikarten Eigenschaften, wie ich bin. Als wenn
ein neues
Sortieren meines Lebens anfangen würde. Meine religiösen Empfindungen prägten mich sehr.
Ich hatte den starken Drang regelmäßig zur Kirche zu gehen und pflegte das
Gebet. Die Bibel las ich mit neuen Augen.

 

Marianne war alles suspekt. Zuhause häuften sich die Mineralwasserkisten. Denn zu meinen besonderen Wahrnehmungen zählte auch, dass ich unterschiedliche Wirkungen von
Mineralwassern auf meinen Gefühlshaushalt feststellte. Steinsieker förderte
schlichtes Denken, wenn ich gar zu sehr am Drehen war, Marienbrunnen gab mir
Ruhe und Kraft, Christinenbrunnen wirkte erfrischend, belebend, wenn ich mich
matt und müde fühlte. Ich setzte das Wasser bewusst ein und entwickelte eine
„Mineralwassertheorie“, die ich an einen bekannten homöopathischen Arzt sandte
(er sollte später mein Hausarzt werden). Er bestätigte grundsätzlich meine
Sinneswahrnehmungen – es sei bekannt, dass Mineralwässer bestimmte heilsame
Wirkungen hätten. Ich fühlte mich in der Wahrheit meiner Wahrnehmungen
bestärkt, gestand jedoch ein, dass meine „großartigen Erkenntnisse“ ein alter
Hut seien.

 

Eine andere Wahrnehmung bestätigte sich in ihrem Wahrheitsgehalt über ein Jahr
später. Ich entwickelte einen überaus starken Bezug zu Zahlen und empfand eine
besondere Bedeutung in jeder Zahl, die mir aber nicht klar wurde. So als hätte
jede Zahl einen „eigenen Geist“. Insbesondere zur Zahl fünf fühlte ich mich in
besonderem Maße hingezogen und brachte sie in besondere Verbindung mit
Weihnachten, mit Christus. Warum wusste ich nicht, ich spürte es. Bei dem
Besuch einer holländischen Kirche entzündete ich deshalb einmal fünf Kerzen in
einer besonderen Anordnung.

 

Als ich im September 1988, am Ende meiner Kur in Donaueschingen „zufällig“ auf das Buch
„Schicksal als Chance“ von Thorwald Dethlefsen stieß, las ich das erste Mal
davon, dass es eine Lehre von den Zahlen gab, die Numerologie. Anfang 1989 ging
ich einfach in
die Buchhandlung und guckte im Ordner unter Zahlenmagie oder so ähnlich nach. Ich
bestellte mir meine ersten Bücher über Numerologie. Die Fünf war meine
Namenszahl und auch die Christuszahl. Ich spürte in diesem Punkt intuitiv
etwas, was einen, wenn auch mir damals nicht entschlüsselbaren, Wahrheitsgehalt
besaß.

 

2017: Und ich stieß damit unbewusst auf altes jüdisches Wissen: Kabbalah - u.a. die Weisheitslehre von den Zahlen, für die Zahlen viel mehr als nur Angaben für Quantität sind. Zahlen haben Qualität, Bedeutung...

 

Kurz vor Weihnachten hatte ich wieder ein Gespräch mit meinem homöopathischen Arzt Erwin Tribbe in Bielefeld. Mein Ekzem am After war immer schlimmer geworden und
darüber sprach ich mit ihm. Er gab mir eine Einzeldosis Sulfur. Nie werde ich
die folgende Nacht vergessen. Ich hatte einen blutigen, stechenden Durchfall ,
als wenn sich mein Darm und Blinddarm entleerte – der Blinddarm hatte sich bei einer früher durchgeführten
Darmdurchleuchtung als verstopft erwiesen. 
Ich schlief kaum, aber schon am nächsten Tag ging es mir besser und nach
zwei Tagen war das Ekzem, unter dem ich seit Monaten litt, weg – jawohl,
vollständig ausgeheilt. Dies war für mich eine Wunderheilung und der Durchbruch
zu meinem Vertrauen in die Kunst meines Arztes – die Kunst der Homöopathie.

 

Allerdings ging mit der Blitzheilung meines körperlichen Symptoms ein neuer Schub
seelischer Heilungsprozesse voran. Ich entwickelte eine neue Unruhe, die sowohl
für meine Umgebung, als auch zunehmend für mich unerträglich wurde. Auf der
anderen Seite war ich weiterhin von meinen Kräften überzeugt und ließ in meinem
kreativen Tätigkeitsdrang nicht nach. Ich war ver - rückt, aber weil mich meine
Umgebung – verständlicherweise – immer weniger aushielt, mich für verrückt erklärte, und damit auch

meine Wahrnehmungen, meine Religiosität, die ich als großes Geschenk empfand, weil
man mich für verrückt erklärte, begann ich nun wirklich wahnsinnig zu werden.
Ich begann Handlungen, um zu beweisen, dass ich recht hatte, dass ich nicht verrückt
war – und damit begann der Wahnsinn. Arbeitsfähig war ich nun wirklich nicht
mehr, ich hielt die empfundene Feindseligkeit von Seiten meiner Kollegen in der
Schule nicht mehr aus und ließ mich von meinem Nervenarzt krankschreiben. Ich
hatte ihn jede Woche besucht und blieb seit dem Workshop bei ihm in Kontakt.
Nun begann jedoch sicher die Zeit in der auch er überlegte, ob er mich
zwangsweise in die Psychiatrie einweisen müsse, wozu ihn meine Schwester
telefonisch drängte und was er auch erwog (wie ich später erfuhr).

Ich widmete mich Unternehmungen, die typisch sind für einen manischen Menschen –
und doch noch bis heute z.T. einen gewissen Reiz auf mich ausüben. Ich denke
z.B. an den Aufkleber, den ich entwerfen und drucken ließ: einen sechsfarbigen
Regenbogen über einem Findling (einzelner Stein aus der Eiszeit, kann klein
aber auch bis zu bis zu mehrere Tonnen schwer sein – kommt in meiner Heimat
häufig vor) und darunter der Schriftzug der Firma, der Idee, die ich in mir
trug: Aueland Art (Atelier und Agentur für darstellende Kunst, Bildung,
Wissenschaft und Dienstleistungen. Weit über 2000. -DM kosteten mich der
Entwurf und Druck von 1000 Aufklebern. Ich ließ bei einem professionellen
Grafiker weitere Firmenschriftzüge entwerfen für einen Briefkopf, ging zu einem
Rechtsanwalt und wollte ihm die Copyright -Beantragung übergeben, ich kaufte
Gemälde, eins schenkte ich Marianne, ließ bei einem Fotostudio eine Fotoserie
von mir machen (als Clown, Feuerspucker und Musiker) und schließlich machte ich
einen Auftritt in einer Musikkneipe klar – für den ich noch zwei Musiker
anheuerte. Natürlich hatte ich Handzettel über mich professionell drucken
lassen – ebenso Plakate, die in 100 Exemplaren zum Leidwesen meines Vaters über
die Stadt verteilt wurden. Ich sprühte voller Aktivismus, und den fremden
Leuten, mit denen ich zu tun hatte, schien nichts aufzufallen. Nur meine
zunehmende Unruhe bereitete mir selbst Unbehagen.

 

So explodierte aus mir auch meine musische, künstlerische Ader. Das kann natürlich manisch gedeutet werden. Im Sinne einer initiatischen Krise, der Geburtskrise konnten diese Impulse von innen jedoch auf meine künstlerischen Wurzeln hinweisen. Ich hatte einen italienischen Urgroßvater, der angehender Sänger/ Musikstudent war. Und meine Großmutter hatte einmal den Traum Sängerin zu werden. Dieser Traum wurde durch die Geburt meiner Mutter zerstört.In den Jahren nach 1987/88 sollte ich noch mindestens 40 Lieder schreiben und später gehörten ein kleine Kleineskunstprogramme mit meinen Liedern, Lyrik und Geschichten zu meinen Hobbies.

 

Ich meldete mich wieder bei meinem homöopathischen Arzt an und erstmals erzählte
ich ihm, der mittlerweile einzigen Person, der ich vertraute, davon, dass ich
zeitweise das Gefühl gehabt habe, vielleicht der wiedergeborene Jesus zu sein.
Mit seinem typischen „Ah ja – alles klar“ verschrieb er mir Cannabis in
homöopathischer Potenz. Er sprach davon, dass der Glaube, Jesus zu sein,
typisch für das Mittel Cannabis sei und außerdem gäbe es bei mir ja den
Haschisch(=Cannabis)konsum aus meiner Jugendzeit.

 

Was jetzt passierte, übertraf noch das Wunder meiner
Ekzemheilung und war gleichsam der Beginn eines bitteren Abstiegs aus luftigen
Höhen. In einem ursprünglich an eine spirituelle Zeitschrift (Connection)
gerichteten Leserbrief verarbeitete ich 1992 erstmals den nun einsetzenden
„Ernüchterungsprozess“, der für die Gesundung eines Psychotikers wohl unumgänglich
ist (der Text erschien dann leicht verändert in Homöopathie aktuell 1/93). Dort
beschrieb ich die nun einsetzenden Erlebnisse wie folgt: „Mit der Einnahme des
potenzierten Cannabis begann für mich ein Ernüchterungsprozess, der mich gewahr
werden ließ, was „Erdung“ heißt. Das Mittel zwang mich buchstäblich in die
Knie. Zwei Tage lag ich fast flach. Unter Schmerzen fühlte ich, wie sich etwas
aus meinen Knochen, vor allem den Kniegelenken löste. Parallel klärten sich
meine Gedanken auf wundersame Weise. Mir wurde nicht nur bewusst, wie
„verrückt“ und abgehoben ich die vorangegangenen Wochen gewesen war – so schön
sie auch in vielerlei Hinsicht waren – vielmehr löste sich in mir eine Art, die
Dinge der Welt zu sehen, wie sie mich fast fünfzehn Jahre wesentlich mitgeprägt
hat. Ich sah die Welt mit anderen Augen.“

 

Zwar verließen mich auch meine „übersinnlichen“ Wahrnehmungen und meine Vitalität,
jedoch klärte sich in mir innerlich so viel, dass es mir wert war, da jetzt
hindurchzugehen. Ich kam meiner inneren Wahrheit näher. Das Wesentlichste
bestand wohl darin, dass ich die Alltäglichkeiten des Lebens neu zu gewichten
begann. Und damit vor allem mich mit meinen Licht und Schattenseiten. Mir wurde
klar, dass die Beziehung mit Marianne keine Zukunft hatte, dass ich mich damit
total übernommen hatte. Meine Einschätzung von Menschen und vor allem die
bodenständigen Tugenden, für die mein Vater stand, bekamen eine neue
Wertigkeit.

 

Dieses neue „Sehen“ erfüllte mich mit Schmerz und mit Scham. Zwar hatte ich die
Möglichkeit in einer ambulanten Therapiegruppe bei meinem Nervenarzt einen Teil
des Schmerzes hinauszuschreien, aber Raum und Verständnis für das was in und
mit mir passierte fand ich auch dort nur begrenzt. Mein Nervenarzt und
Psychotherapeut hatte keinen Bezug zur Homöopathie, mein homöopathischer Arzt
keinen Bezug zum Prozess in der Psychotherapie. Und vor allem: Beide hatten
nicht die Zeit für mich, die ich mir gewünscht und die ich gebraucht hätte.
Aber Psychiatrie war beileibe keine Alternative, vielleicht wäre es eine
aufgeschlossene Soteria gewesen, so wie ich sie mir vorstellen würde.

 

2015 kam mir das Bild von der "Wolke der getrübten Wahrnehmung" durch die ich gegangen bin. In der Tat bin ich heute insbesondere nach langjähriger suchttherapeutischer Erfahrung u.a. auch mit Cannabisabhängigen davon überzegt, dass die "Bewusstseinsveränderung durch Cannabis" Realität ist. Es gibt aus meiner Sicht ein aufgeblähtes Cannabisbewusstsein mit erhöhter Wahrnehmung, aber insbesondere dem Verlust von geerdeten Realitätsbezug. Und dem Verlust von Wahnehmung und Ausübung von  klarer und zielgerichter Härte, Aggression und auch Lebensfreude. Daher die Depressionsneigung durch Cannabis, aber auch mögliche chaotische  - "missionarische" Aggression. Damit kann man durchaus leben, bei hinreichend sicheren Grundstrukturen der Persönlichkeit und Nischen in der Gesellschaft. Ist die Gesellschaft davon geprägt, wird es jedoch kritischer... Die Wahrnehmung für die Folgen dieser Bewusstseinsveränderung ist eben getrübt - so meine Wahrnehmung, so weit sie klar ist. Denn über Wirklichkeiten lässt sich eben schwer streiten.

Für mich war diese erste spirituelle Krise auf jeden Fall auch eine wichtige reine Reinigungskrise eben  gerade dieser "Wolke der getrübten Wahrnehmung" durch Cannabis. Und wahrzunehmen, dass man über Jahre durch ein "falsches" Bewusstsein" unauthentisch gewesen ist, schmerzt. Mit diesem Schmerz wurde ich nun in großer Wucht konfrontiert.

 

Von einem war ich überzeugt: Alles was in den letzten Monaten (es ist jetzt Februar/März
1988) passiert war, war ein Prozess der Heilung, aber jetzt ging mir allmählich
die Kraft aus, alles auszuhalten. Meinen Auftritt als „Künstler“ brachte ich
noch mehr schlecht als recht über die Bühne, dann versuchte ich nur noch
irgendwie den Tag auszuhalten, zu „leben“, zu funktionieren, um vielleicht bald
wieder zu arbeiten. Nachdem ich
schließlich nach der Trennung von Marianne eine Woche wieder zu Hause im Haus
meiner Eltern lebte, hielt ich es vor Unruhe und Depressivität nicht mehr aus.
Ich ging für 4 Monate in die Psychiatrie und Tagesklinik. Was ich erlebt hatte,
brauchte eine Zeit des Verdauens. Im
Sinne eines Heilungsprozesses hatte ich durch meine in die Manie mündende
Heilungskrise - wohl auch spirituelle Krise - eine intensive und sehr
schmerzhafte Erstverschlimmerung erlebt – jetzt galt es mein Leben neu zu
sortieren. Um zur Ruhe zu kommen, war die Psychiatrie ein guter, geschützter
Ort – wenn auch kein Ort zur emotionalen Durcharbeitung.

 

Einige An- und Einsichten heute, über 20 Jahre danach (ca.2008/09)

 

So schrieb ich abgesehen von leichten Änderungen vor einigen Jahren meine Erinnerungen an
meine Anfangszeit eines langen Heilungsweges nieder. Heute arbeite ich seit
über acht Jahren als Suchttherapeut in der stationären Rehabilitation von
Abhängigkeitserkrankungen. Das ich in dieser Berufstätigkeit ankommen konnte,
hat mit vielen Erfahrungen und Werkzeugen zu tun, die ich über die Jahre
kennenlernen durfte.


Ich bin nicht nur in bezug auf meine frühere Diagnosen, „Neurotische Depression mit
rezidivierender Dekompensation bei zyklotymer Persönlichkeit“, „Zyklotomie“
oder emotional instabiler Persönlichkeitsstörung (retardiert) seit Jahren
stabil und damit geheilt, sondern konnte mich von einigen körperlichen
Erkrankungen wie häufigen Rückenschmerzen, längeren Harnwegsinfektionen und
schließlich sogar die letzten 8 Jahre weitgehend von Heuschnupfen
verabschieden, ohne dass ich mich mit schulmedizinischen Medikamenten
verschließen musste. Auch, und das sage ich heute im Rückblick, wenn ich
1988/89 und 1990 zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben Antidepressiva für
eine Weile benötigte, bzw. 1988 nach der oben beschriebenen
manisch-psychotischen Episode parallel zur homöopathischen Begleitung
„Melleryl“ benötigte. Ich habe mir meinen Heilungsweg durch weitgehende
Abstinenz von Psychopharmaka sicher schwerer gemacht, als er hätte sein können.
Doch ich wollte etwas beweisen: „Gesundwerden ist möglich!“ – Das ist mir
gelungen.

 

Neben der Homöopathie, deren Wirkung ich oben an 2 Beispielen beschrieb, stellte ich mich
immer wieder der emotionalen Körpertherapie des Cariel-Prozesses in 4 – 10
tägigen Intensivtherapien. Ich wollte zu der in der manischen Phase erstmals
empfundenen eigenen Lebendigkeit finden und wandte mich daher trotz
gegenteiliger Empfehlungen nach meiner „Sinnantwort“ auf diesen Lebenseinbruch
wieder dieser Therapieform zu, wenn auch ab Juni 1989 bei neuen Therapeuten in
der Hirsenmühle (Dan Casriel Institut unter Leitung Dr. Ingo Gerstenberg,
Westerwald). Entscheidend für eine stärkere emotionale Stabilisierung war
jedoch dann ab 1993 die verstärkte Kombination mit einer Familienaufstellung
nach Bert Hellinger, sowie die Einbeziehung seiner Einsichten in die Therapie,
durch intensives Eigenstudium in sein Denken, wie auch systemischem
Denken überhaupt, das ja über Bert Hellinger hinaus geht. Ich lernte mein
Leben, mein Leid - und das Leid/Schicksal meiner Familienangehörigen über
verschiedene Generationen – in vielen Schritten neu wahrzunehmen, durchzuarbeiten
und eine zunehmend bewusstere und gemäßere Haltung dazu zu entwickeln. Eine
soziale und geistige Stütze wurden mir lange Zeit Gruppen der Emotions
Anonymous, die ich in einer kritischen Zeit 1989 sogar bis zu 3 x die Woche
besuchte. Sie halfen mir, einen zweiten Psychiatrieaufenthalt (nach 1988) zu
vermeiden, als ich durch Selbstüberforderung nochmals in eine psychotische
(diesmal noch deutlicher spirituelle) Krise abglitt, aus der ich ähnlich wie
Anfang 1988 mit Hilfe der Homöopathie zurückfand. Darüber hinaus erhielt ich
aus Büchern von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke, sowie Karlfried Graf
Dürkheim („Alltag als Übung“) wichtige Impulse. So lernte ich neu das
alltägliche Leben mit seinen erdenden Möglichkeiten zu nutzen, sei es z.B.
durch Wertschätzung des Unkrautjätens („in der richtigen Haltung“ bei dieser
niederen Arbeit gibt es keine Rückenschmerzen), bzw. schließlich einer
schlichten Arbeit als Paketfahrer und dann auch für 7 ½ Jahre als
Verkaufsfahrer in einem „Tante Emma Laden auf Rädern“.

 

Ich kenne heute anders als früher eine Schwere des Lebens. Nicht zuletzt habe ich über
Jahre sehr hart an mir gearbeitet. Ich habe immer wieder viel riskiert, viel
Geld für meine Gesundheit (Homöopathie und Psychotherapie) ausgegeben, dass mir
durch das Erbe des elterlichen Hauses zur Verfügung stand. Hauptsache „heilen“.
Ich hätte mich anders entscheiden können – und vielleicht heute mehr Besitz,
eine einfache Arbeit, vielleicht gar ein Kind und noch meinen Heuschnupfen und
meine regelmäßigen Medikamente. „Sie brauchen Lithium wie der Diabetiker sein
Insulin“ klingt es mir noch in den Ohren, „vertrauen sie mir doch“, so die
Worte meiner früheren Hausärztin.

 

Dafür kann ich heute stabil in dem Beruf arbeiten, den ich als Jugendlicher anstrebte, als
Therapeut. Seit meinem Wiedereinstieg in das Arbeitsleben 1990 habe ich
abgesehen von den Folgen eines Autounfalles kaum Fehlzeiten im Arbeitsleben
gehabt. Seit 1991 bin ich abstinent vom Rauchen (früher 30 – 40 Zigaretten).
Ich habe die Freude am Singen entdeckt und eine ganz schöne Stimme entwickelt,
sowie bis heute über 40 Lieder geschrieben. Ich spüre mich lebendig, wie ich
es früher höchstens bei anderen bewundert habe – z.B. in der kleinen Freude
über meine heute in meiner Wohnung gedeihenden Blumen oder über den
Sonnenschein im Frühling. Und ich habe heute vielleicht gerade darin ein durch
Erfahrung bedingtes religiöses Grundempfinden, dass mich sehr reich und froh
macht. Spiritualität habe ich letztlich immer wieder in neuen Qualitäten kennen
lernen dürfen – gerne nenne ich mich heute „fromm“, das klingt weniger „chic“,
so wie das Wort „spirituelle Krise“ vielleicht auch eine verbale Abmilderung
durchaus bedrohlicher seelischer Zustände sein kann.


„Gesund werden ist möglich“ schrie ich einst (1989) in einer psychotherapeutischen
Intensivphase einer Therapeutin und anderen Gruppenmitgliedern entgegen, von
denen ich mich skeptisch beäugt fühlte. Dies zu beweisen war mir über viele
Jahre ein Anliegen. Skepsis begegnete mir über die Jahre immer wieder, von
Menschen, bei denen ich unterschiedliche Themen auslöste. Andererseits sehe ich
mich heute eingebunden in ein Netzwerk von Menschen, denen „Heilung“ ein
Anliegen ist und die z.T. entsprechende Erfahrungen haben und wissen, wie es
„schmeckt“. Hier fühle ich mich solidarisch verbunden – und respektiert. Seien
es Menschen, mit denen ich auf dem Weg intensive Erfahrungen hatte, Kollegen,
Therapeuten, die mehr von mir erlebt haben oder Referenten meiner ca. 100
Veranstaltungen, die ich bis 2006 über 13 Jahre organisierte, bekanntere Namen
sind z.B. Rüdiger Dahlke und Jirina Prekop. Hier gelang es mir, in zwei Städten,

unter dem Namen „Leben und Sinn“ ein kleines
Energiefeld aufzubauen, indem Gedankengut, wie es meinem Genesungsweg
entspricht, gepflegt wurde.

 

Auch selber habe ich einmal mit guter Resonanz Kleinkunstprogramme und einen Vortrag
gestaltet („Gesundwerden ist möglich – Einsichten eines Genesenden“), in dem
ich von meinen Erfahrungen berichtet habe. Dabei ist mir jedoch auch deutlich
geworden, das es nicht leicht ist, gleichzeitig „Psychoseerfahrener“, wie auch
im Berufsleben etablierter Therapeut zu sein. Über schmerzhafte Erfahrungen zu
berichten, kann auch ein Stück Retraumatisierung sein. Ich möchte heute gut in
meiner beruflichen Existenz leben, da scheint es mir besser zu sein, mich vor
allem als Sozialpädagoge/Suchttherapeut zu definieren und diesen Teil von mir
zu leben. Auch so scheine ich den Wunsch verwirklichen zu können, das was mir
an Genesung gegeben wurde auf eine gute Art und Weise weiter zu geben – so gut
ich kann. Auch ist mir heute wichtig, immer wieder Freude zu haben und mich mit
Leib und Seele zu entfalten und es mir endlich einfach gut gehen zu lassen – so
gut es geht. Lebendig leben ist mir kostbar geworden.

 

Und manchmal biete ich meine persönlichen Erfahrungen dann doch wieder an, wie jetzt mit dem
Schreiben dieser Zeilen. Vielleicht ist es ja von Interesse und macht Mut. Das
wünsche ich anderen „Psychoseerfahrenen“, denen ich mich nach wie vor als
„Davongekommener“ innerlich sehr verbunden fühle.

 

Zum Schluss möchte ich noch „meine Literatur-Hits“ angeben. Es sind teilweise
unterhaltsame Bücher, Lebensweisheiten, wie auch Fachliteratur. Das neueste ist
dabei das Buch von Franz Ruppert, das mir sehr zum Verständnis meiner
Geschichte beigetragen hat.

 

Literatur:

Dethlefsen, Thorwald, „Schicksal als Chance“

Dürckheim, Karlfied Graf, „Alltag als Übung“

Ders. „Erlebnis und Wandlung“

Grof, Stanislav (Hrsg.), „Spirituelle Krisen“

Ignatius, Alex, „Die zen-sationellen Abenteuer des Pilger
Mu“

Ders., „Pilger Mu – Einer wie Du und Ich“

Laotse, „Tao te king“ in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Lechler, Walter/ Lair, Jaqueline, „Von mir aus nennt es
Wahnsinn“

Ruppert, Franz, „Verwirrte Seelen – Entwurf einer
systemischen Psychotraumatologie“

Shah, Idries, „ Die fabelhaften Heldentaten des vollendeten
Narren und Meisters Mulla Nasrudin“

Simon, Fritz B., „Meine Psychose, mein Fahrrad und ich“

Weber, Gunthard(Hrsg.), „Zweierlei Glück – Die systemische
Therapie Bert Hellingers“

 

 

 

 

 

Noch ein Abschnitt aus meinen "Erfahrungen"

 

Psychotherapie und spirituelle Erfahrungen (Frühsommer 1989)

 

Mit meiner Haltung „wenn ich nur dies und jenes tue, werde ich gesund“ schlidderte ich im Frühsommer langsam
aber sicher in eine zweite Phase hinein, die landläufig als Psychose bezeichnet
wird. Mir gefiel eine lange Zeit der Begriff „spirituelle Krise“. In einer
Fernsehsendung der Reihe „Kontakte“ beschrieb eine Frau ähnliche Erfahrungen.
Mit dieser Sendung erhielt ich einige Antworten, nach denen ich mich gesehnt
hatte. Vor allem sah ich mich mit meinen Erlebnissen nicht mehr allein.
Letztlich verschönert der Begriff „spirituelle Krise“ jedoch, was für mich in
Wirklichkeit sehr bedrohlich war. Und er hebt mich vom normalen „Psychotiker“
ab. Heute stehe ich dazu und unter unglücklicheren Umständen wäre es mir
ergangen wie tausend anderen Psychotikern, die dank der effizienten Wirkung von
Psychopharmaka ihrer Symptome und ihrer Lebenstüchtigkeit beraubt wurden und
Stammkunden der Psychiatrie und Pharmazie wurden. Ich bin – oder besser: war –
auch so ein Psychotiker – nur wurde mir andere Hilfe zuteil – privat
finanzierte (Homöopathie und Psychotherapie) und selbstorganisierte (EA),
weitgehend außerhalb des üblichen Gesundheits- und Hilfesystems stehende Hilfe.


Mein Hineinschliddern in meine zweite und letzte Psychose lag vor
allem in meinem nach wie vor vorhandenen Wahn begründet, ich müsste und könnte
in kürzester Zeit gesund werden. Auf den drei Workshops, die ich in diesem
Frühjahr bei Karl-Heinz und Elisabeth Hartmann besuchte, bekam ich ja auch
deutlich gespiegelt und vorgehalten, dass mit mir vieles nicht in Ordnung sei.
Kriegte ich in der Gruppe Prügel für mein Verletzt sein, erntete ich
distanziertes Mitgefühl der Therapeutin, war ich auf dem zweiten Workshop allseits
beliebt, kriegte ich auf dem dritten die Mahnung, sei doch nicht so ein
Sonnyboy. Ich jagte einem Bild von mir hinterher, das ich nicht erreichen
konnte und wurde darin von niemandem gebremst, eher im Gegenteil. Nach dem
dritten Workshop im April/Mai 1989 stand meine erste psychotherapeutische
Intensivphase bei Dr. Ingo Gerstenberg im Dan Casriel Institut
Hadamar-Oberzeuzheim an. Ich war aufgrund meiner tiefen emotionalen Erfahrungen
im Umgang mit dem Schrei und auf der Matte von der Casriel-Therapie überzeugt.
Die Friedlosigkeit, mit der ich jedoch aus den Workshops bei „Charly“ und
„Liesel“ kam, stärkte in mir jedoch den Impuls es bei „kompetenteren“
Therapeuten zu versuchen. Ich wusste, dass in der Hirsenmühle der Ausbilder der
beiden, Ingo Gerstenberg, ebenfalls Workshops anbot und hoffte, dort wirksamere
Hilfe zu erhalten. Mit dieser Hoffnung lag ich in meinem Fall richtig. Jedoch
versuchte ich, bis zum Workshop die Zeit intensivst zu nutzen, indem ich mich
möglichst „effektiv“ vorbereitete. „Mit aller Gewalt“ wollte ich meinen Alltag
so gestalten, dass er vollkommen auf „gesund werden“ ausgerichtet war.

 

So begann ich nach meinem dritten Workshop in Folge bei Karl-Heinz und Elisabeth täglich allein die „Dynamische
Meditation“ des indischen „Meisters“ Bhagwan (später Osho) zu machen. In dieser
Meditation werden in fünf Phasen im wesentlichen zu Musik aktivierende Übungen
durchgeführt. Vor allem zwei Phasen, das „chaotische Atmen“ (zehn Minuten) und
die „Hu-Phase“, in der zum rhythmischen Emporschnellen des Beckens der Laut
„Hu“ gesprochen bis geschrieen wird, lösen Blockaden, die den Zugang zu eigenen
Schichten des Unterbewusstseins und der eigenen Lebensenergie versperren
(soweit mein kurzer Versuch der Beschreibung). Die dynamische Meditation ist
ein aufdeckendes Werkzeug, dass Zugang zu tieferen Quellen/Schichten des Selbst
ermöglicht. Aus meiner Erfahrung würde ich sie jedoch nie wieder allein machen
und dies auch niemandem empfehlen. In Gemeinschaft ist sie hingegen ein
wertvolles Instrument und wird wie damals bei den Hartmanns auch heute noch in
der Hirsenmühle zu Beginn eines Therapietages angeboten.

Drei Wochen lang nahm ich mir
jeden Tag eine Stunde Zeit für sie. Ausnahmen waren nur ein Wochenendtreffen
mit A-Freunden bei Melissa und ein EA-Deutschlandtreffen in Darmstadt.. Ich
erinnere mich daran, wie ich anfangs noch in der „Freak out – Phase“ (zehn
Minuten freies Ausagieren nach Musik) sehr viel aus mir herausschrie. Später
wurden meine Schreie weniger. Meine Mutter, die mit mir das Haus bewohnte, ließ
mich gewähren, „wenn der Junge meint, dass es ihm hilft“, gewiss jedoch bekam
mancher Nachbar oder Passant meine Lautstärke mit. Ich war halt ein
„Verrückter“. In dieser Zeit konnte ich mir viel von der Seele schreien und es
fand auch ein guter Reinigungsprozess statt.

Meine Wahrnehmungsintensität nahm
deutlich zu und gleichzeitig häuften sich spirituelle Erfahrungen im Alltag.
Ich tauchte in ein tiefes Einssein mit der Natur, andererseits entfernte ich
mich jedoch wieder innerlich von den Menschen. Ich konnte das, was in mir
auflebte mit niemandem teilen außer, wenn auch im Rahmen bestimmter Grenzen,
mit Worten bei EA. Hier bekam ich neben liebevoller Zuwendung auch Bewunderung
zu spüren, für meine spirituelle Art, das Leben und Gott wahrzunehmen und zu
leben. Und dennoch fühlte ich mich sehr einsam. Was half die tiefste religiöse
Erfahrung, wenn sie nicht (mit-) teilbar war?

So stieg in den Wochen bei allem
Glücksgefühl parallel auch Unruhe und Verzweiflung an und doch fühlte ich mich
getragen – vom Leben, von Gott.

Mein christlicher Glaube in mir
wuchs wieder und schrie nach Ausdruck. Das „Vaterunser“ betete ich ohnehin oft.
So bat ich in einem freien Gebet um Gebetsanleitung, eine Form, wie ich das
Gebet besser pflegen könnte. Wenige Tage später bummelte ich durch Minden.
Mitten in der Fußgängerzone waren ein paar Ständer mit Büchern aufgebaut.
Inmitten von verschiedenen alten Büchern leuchtete mir das „Grüne Buch“ von
Gaddafi entgegen. Ich nahm es heraus, blätterte ein wenig darin und steckte es
wieder hinein. Dabei stolperte ich ganz zufällig auf ein kleines Büchlein
„Gemeinschaft der Heiligen“. Vom Format kleiner als eine Postkarte. Es enthielt
genau das, wonach ich mich damals sehnte: Gebete aus der Christenheit und eine
Anleitung zur Durchführung von Andachten. Durch dieses Büchlein, einem
„ökumenischen Brevier“, wehte ein Geist, der dem entsprach, wie ich damals
Glauben empfand.

Ich begann nun jeden Morgen die
Tagesandachten laut zu lesen und gestaltete mir für längere Zeit mit diesem Büchlein
Andachten in meiner Kammer unter dem Dach. Ich betete Psalmen, las und sang,
weinte und schrie Gebete und erlebte Gott auf eine Art und Weise, die mir bis
heute heilig ist.

Schwierig wurde es mit meinem
überreichhaltigem Innenleben, als ich die Einladung erhielt, zu Melissa auf ein
Besinnungswochenende unter A-Freunden (Leuten aus dem Umfeld der Anonymen
Selbsthilfegruppen) zu kommen. Zu vieles spulte sich in mir ab und mir war
klar, dass ich relativ unruhig war. Sorge hatte ich, dass ich von den anderen
für „verrückt“ gehalten würde. Ich sehnte mich so nach dem normalen
Gemeinschaftserleben und ich freute mich, Melissa wiederzusehen, zu der ich
mich seit unserer Bonding-Matte („ich brauche“) sehr verbunden fühlte.

Melissa hatte ein Haus in Porta
Westfalica. Dort trafen wir uns, um gemeinsam zu meditieren, Meetings zu haben,
spazieren zu gehen, einfach eine gute, reiche Zeit zu haben. Ich freute mich
sehr darauf, hatte jedoch auch Angst. Vorsichtig begegnete ich anfangs den
anderen und fühlte mich auch wohl. Meine wachsende Unruhe bereitete mir jedoch
zunehmend Unbehagen. Ich ging hinaus in den wunderschönen, großen Garten und
stellte mich vor einen mir bereits zuvor aufgefallenen Bienenstock. Die Bienen
flogen ein und aus, ich beobachtete sie eine Weile. Dann bat ich sie innerlich,
„bitte, bitte liebe Bienen helft mir!“ Kurze Zeit später, ich hatte mich gerade
in die Hocke gesetzt, stach mir eine Biene auf das rechte Auge. Ich schrie vor
Schmerz, rannte in das Haus hinein, kühlte mein Auge und legte mich eine Weile
tief durchatmend auf eine Decke im Wohnzimmer. Ich spürte, wenn nicht gar
meditierte, dem Schmerz nach. „Ich habe einen Stich“ entfuhr es mir auf einmal.
Ich musste lachen, bei allem Schmerz – körperlichen Schmerz diesmal. „Ich habe
einen Stich“. Erleichterung zog durch meinen Körper, neue Assoziationen,
Einsichten, eine neue Art der Kapitulation. Wie viel innere Anstrengung hatte
es mich gekostet, meine innere Unruhe zu verbergen, eigentlich war ich unruhig,
weil ich mein Innenleben meinte verbergen zu müssen, weil ich Angst hatte,
jemand könnte mich für verrückt erklären. Jetzt begann eine Kapitulation vor
meinem „Verrücktsein“. „Ich habe einen Stich“ hieß für mich erst mal so viel
wie „ich bin verrückt, aber o.k. wie ich bin und ich habe ein Recht darauf zu
sein. Wenn du damit Probleme hast, ist es dein Problem. Ich wende keine Kraft
mehr dafür auf, mich zu verstecken“. Mit dieser Haltung kam ich gut über das
Wochenende (und darüber hinaus). Als ich im gemeinsamen „Meeting“ (analog zu
den EA-Meetings) wie häufig üblich mich mit 
einem Einstellungssatz vorstellte,
sagte ich „ich bin Jürgen und ich habe einen Stich“. Schmunzeln ging durch die
Runde. In diesem spirituellen Rahmen war es durchaus nicht ungewöhnlich,
Geschehnisse des Alltags in bezug auf eigene Lernaufgaben zu setzen. Ich hatte
zu lernen, „mit einem Stich“ zu leben.

Das Wochenende verlief für mich sehr harmonisch und ich fühlte mich
sehr, sehr wohl. Ich lernte eine „aktive Meditation“ von den Sufis (mystische
Geistesrichtung dem Islam nahestehend) kennen, die mir sehr gefiel und hatte so
manch gutes Gespräch. Als wir zu einem Baggersee zum Schwimmen fuhren, genoss
ich meine Lebendigkeit und nahm es mir heraus mit meiner lauten Stimme zu
juchzen, zu schreien und einfach zu experimentieren. Ich hatte ja einen Stich,
und als solcher darf ich so etwas natürlich. ... ist der Ruf erst ruiniert,
lebt sich’s gänzlich ungeniert... .

Nach diesem wunderbaren Wochenende
ließ mich „der Stich“ natürlich nicht los. Ich sann darüber nach und in meinem
assoziativen, „psychotischen?“ Denken ergab sich eine Bilder-kette. Ich erinnerte mich an das Schwert „Stich“
aus dem Buch „Der Herr der Ringe“ von
J.R.R. Tolkien und sah mich schließlich am Ende meiner Gedankenassoziationen
vor die symbolische Aufgabe gestellt, mit einem Stich eines Schwertes („Stich“)
einem Drachen in das rechte Auge zu stechen. Doch was sollte das bedeuten? Mir
war klar, dass diese Aufgabe nur eine symbolische war. Ich konnte durchaus
meine Bilderwelt („Tagtraumwelt“) von der Wirklichkeit trennen. Was sollte das
bedeuten, denn Bedeutung hatte dies alles für mich, das war klar.

Einige Tage oder auch ein, zwei
Wochen später war ich im Marktkauf, meinem Stammsupermarkt, einkaufen. Als ich
mit dem Einkauf fertig war und mit meinem Wagen an der Kasse stand, leuchtete
mir aus dem Korb unter dem Zigarettenständer ein Buch entgegen: „Die Augen des
Drachen“ von Stephen King. Es erschien mir wieder mal unheimlich. Wieder nahm
ich wahr, wie sich alles fügte. Wie die Alltagswirklichkeit sich nahtlos in
meine „mystische Welt“ einfügte. Wie im „Weg des Derwisch“ geschildert, machte
auch ich die Erfahrung, dass ich alles bekomme, was ich brauche.

Natürlich griff ich sofort nach
dem Buch, das jemand dort einfach abgelegt hatte, weil er es doch nicht kaufen
wollte, und packte es zu meinen anderen Waren. Zu Hause angekommen, fing ich
sicherlich gleich an es durchzulesen. Ich verschlang es. Und: es gab mir die
Antworten auf meine Fragen. Jedenfalls die, die mir reichten, um in Frieden
meine Gedankenassoziationen um den „Stich“ abzuschließen.

In etwa lautete die Antwort für
mich so: Der Drache steht für die urwüchsige Lebenskraft. Hinter den Augen des
Drachen (einem Drachenkopf an der Wand) verbarg sich im Buch der Königssohn,
der die dunklen, „bösen“ Anteile seines Vaters repräsentierte und ihm diese
spiegelte. In diese Augen blickte der
König stets wenn er in seinem Arbeitszimmer war. Das rechte Auge des Drachens
stand nun für meine dunkle Schattenseite und zwar die analytische, zielstrebig
blickende. Es galt nun für mich dieses auszustechen und weiter auf meine
Intuition und das schauende, ganzheitliche Sehen zu vertrauen.

Vielleicht müsste ich es auch
anders deuten, denke ich heute, im Juni 2000. Im Herbst 1987 hatte ich auf der
rechten Gesichtshälfte eine Nervenlähmung (Facialisparese), die so meine ich,
durch einen massiven Stau an Verschleimung (Stau von Lebenssaft) hervorgerufen

wurde. Durch einen Stich könnte
vielleicht der Eiter abfließen? Jedenfalls geschah genau dies später unter dem
homöopathischen Mittel veratum viride. Außerdem ist noch zu bemerken, dass mein
Vater auf dem rechten Auge blind war und ein Glasauge trug. Noch ein Ansatz zur
Interpretation.

Am 2./3. August nahm ich das
Drachenthema noch mal auf und fasste einig Gedanken in einem Lied zusammen „The
Eyes Of A Dragon“ (siehe Anhang). Mein Leben war wieder um eine heftige
Erfahrung reicher.  

 

Wenige Tage vor meinem Workshop im
Juni in der Hirsenmühle fuhr ich mit zwei EA- Freundinnen nach Darmstadt zum
EA-Deutschlandtreffen. Mit hektischem Fahrstil fuhr ich hin – entspannt und
ruhig ging es zurück. Dazwischen lagen zwei Tage, die ein besonderes Erlebnis
für mich waren.

Ich begann ja gerade erst bei EA
heimisch zu werden. Anfangs hatte ich noch überlegt, ob es überhaupt gut für
mich sei, nach so kurzer Zeit in der EA-Gruppe schon solch ein großes Treffen
zu besuchen. Das Wochenende wurde eine wunderbare Erfahrung. Nie zuvor und
lange nicht mehr danach fühlte ich mich so lebendig und geborgen in einer solch
großen liebevollen Gemeinschaft. Und ich hatte eine zarte, wunderschöne
Begegnung mit Marina. Mit ihr verbrachte ich eine Nacht, von der ich lange
zehrte.

Das Deutschlandtreffen fand in
einer großen Halle statt und war von strahlendem Sonnenschein begleitet. In den
großen Meetings lernte ich mehr von der heilsamen Kraft kennen, die das
Zwölf-Schritte-Programm und die Anonymen Gruppen trägt und so heilsam macht:
Offenheit, Liebe und Spiritualität. Ich war ja mit so viel aufgedrehter Energie
hier angekommen – ich wurde getragen. Auch mit meinem lautstarken Gesang und
Gitarrenspiel, mit dem ich lange Strecken den Platz vor dem Haupteingang
ausfüllte. Kein „Bitte leise“, „Geh doch woanders hin“. Viele schienen sich mit
mir zu freuen und manche sahen meine ungebremste Lebendigkeit sogar mit
Wohlwollen, erst recht ein Kind, mit dem gemeinsam ich ein Lied entwickelte: „Die Wut tut gut“.
Wohltuend habe ich auch die abendliche Diskothek in Erinnerung. Ich wirbelte
über die Tanzfläche und längere Zeit wirbelte ich wie ein Derwisch quer und
längs durch die ganze Turnhalle, die voll mit tanzenden EA-Freunden war. Welch
eine Freude, welch eine Ausgelassenheit. Und anschließend lernte ich Marina
kennen. Mit ihr verbrachte ich eine wunderschöne, platonische und doch sehr
zärtliche, kraftspendende Nacht unter einer Treppe in einem Flur. Dieses
Wochenende tat gut, so gut. Doch es war auch unwiederbringlich. Glücklich und
entspannt fuhr ich nach Hause, um wenige Tage später zu meinem ersten Workshop
in die Hirsenmühle zu Dr. Ingo Gerstenberg zu fahren.

Die psychotherapeutische
Intensivphase in der Hirsenmühle war vom 12. bis 16.Juni 1989. Ich weiß es noch
so genau, weil ich einen Tag darauf ein Gedicht schrieb, das später zu einem
mir wichtigem Lied wurde: „Offene Sinne“. Aber dazu später. Ich kam also in der
Hirsenmühle an, um einen Workshop bei Dr. Ingo Gerstenberg und Arlene Moore,
einer Lehrtherapeutin für Transaktionsanalyse, zu besuchen. Ich hatte einen
Riesenberg an Erwartungen an diesen Workshop und war offen und aufgedreht.
Wohlgemerkt, erstens hatte ich drei
Wochen fast jeden Tag dynamische Meditation hinter mir, hatte viel erlebt, das
mich aufwühlte, zweitens war ich unter homöopathischer Medikation, d.h. einer
psychisch aufdeckenden Heilweise, die ebenfalls psychische Prozesse anschob,
drittens hatte ich gerade ein wunderschönes, beglückendes Wochenende mit EA
hinter mir, das mich dem EA-Geist
sehr nahe brachte mit all der
Hoffnung, die sich für mich damit verband. Dennoch war mir bei all diesem Glück
meine Zerrissenheit und Unruhe durchaus bewusst und ich hatte letztlich eine
große existentielle Angst, nicht rechtzeitig zu Beginn meiner Umschulung am
ersten August zur Ruhe zu kommen, sprich „gesund“ zu werden.

Ich hatte für meine Empfindung
dieses Jahr schon viel Therapie gemacht (drei Workshops bei Hartmanns),
meditiert, Sport getrieben, Tage strukturiert, bin zu vielen EA-Meetings und
bekam immer wieder Rückmeldungen von meinen Therapeuten zuvor, von meinen
Schwestern, Bekannten, mit mir sei etwas nicht in Ordnung – und ich selbst
spürte es ja auch. Vor allem eines zeriss mich damals. Auf der einen Seite
empfand ich ein tiefes Glück über meine religiösen Erfahrungen und die
Entdeckungen und Einsichten, die ich im letzten Jahr gewann, ich spürte, ich
war am Anfang m e i n e s Weges angekommen, zum anderen war in mir ein
tiefer Schmerz über meine Einsamkeit, in der ich mit meinen Wahrnehmungen und
Erlebnissen war. Und ich hatte eine große Angst, den Anforderungen des
nüchternen Alltags (Arbeit, Pflege und Übernahme des elterlichen Erbes = Haus)
nicht gewachsen zu sein. Ich sah vor mir einen Weg der Heilung, über dessen
Entdeckung ich sehr glücklich war, ich spürte die Kraft in mir, eines Tages das
leben zu können, was ich jetzt erahnte und doch hütete ich mich davor, zuviel
davon preiszugeben. Ich schrieb es als mein „größtes Geheimnis“ auf den
Eingangsfragebogen zu der Therapiegruppe: „ich bin ein kraftvoller,
gefühlvoller Mann und werde eines Tages entsprechend leben“. (Anm.)

 

 Anm.: Ja, ich lebte lange das
Prinzip Hoffnung. „Wer von der Hoffnung lebt, tanzt ohne Musik“ lautet ein
schottisches Sprichwort, dass lange in meinem Wohnzimmer hing. So ging es mir
wahrlich lange. Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft, hieß aber auch aus dem „Hier
und jetzt“ wegzugehen. Den aktuellen Schmerz, und davon war und ist in mir
reichlich, habe ich damit von mir weggeschoben. Wen konnte ich damit
„belasten/belästigen“? Später stieß ich mal auf einen Vortragstitel von Fide
Ingwersen: „Hoffnung trübt den Blick“ Damit fing bei mir ein Prozess an, mit
dem ich die Zwiespältigkeit eines Lebens mit dem Prinzip „Hoffnung“
wahrzunehmen begann. Ein neues Kapitel „Nüchternheit“.

 

Vor allem möchte ich jedoch
erwähnen, warum ich zu Dr. Ingo Gerstenberg kam. Ingo (in dieser Arbeit wird
das „Du“ gepflegt), ehemaliger Therapeut der psychosomatischen Klinik Bad
Herrenalb, war Schüler Dan Casriels, dem Begründer der Casriel-Therapie und
später als Lehrtherapeut Ausbilder von Karl-Heinz und Elisabeth. Er musste also
wohl „besser“ sein, hoffte ich. Vor allem wünschte ich mir, dass ich hier mehr
Raum bekam, meine Kraft und Freude zu leben und er mich besser (er-)tragen
konnte als Elisabeth und Karl-Heinz. Er hatte also viel Vertrauensvorschuss
(oder auch Respektsvorschuss) bei mir. Und doch, viel später erfuhr ich von
ihm, dass er damals (auf diesem Workshop) mit Arlene gezweifelt habe, ob ich in
dieser Therapie am richtigen Platz sei. Ich glaube, wenn er mich damals
abgewiesen hätte, wäre ich verzweifelt. Aber das geschah zum Glück nicht.
Dennoch empfand ich während dieses Workshops ein Misstrauen von ihm und Arlene
und ich geriet unter zusätzlichen Druck, etwas und mich beweisen zu müssen.

Ich vergesse nie meine erste
Vorstellung in der Eingangsrunde. Ich saß wie auf heißen Kohlen. Als ich
endlich an der Reihe war, spiegelte es mir Ingo auch sogleich „Na endlich“ oder
so ähnlich „bist du dran“ Ja, ich brannte darauf, all das loszuwerden, was in
mir kochte und es war am Anfang diese Workshops erst mal eins: „ich bin
glücklich“, ja ich bin glücklich. Ich wollte erst einmal all mein Glück, meine
Freude zum Ausdruck bringen, mit der ich so oft zu Hause hinterm Berg halten
musste, weil sie niemand nachempfinden konnte. Und für die ich mich wiederholt
misstrauisch beäugt fühlte. War ich verrückt, weil ich so viel Freude empfand?
Freude war doch eine der wesentlichen Basisemotionen mit denen die
Casriel-Therapie arbeitet. Und doch, auch hier war es vielen zuviel. Ich spürte
Misstrauen bei den Therapeuten und in der Gruppe. Aber es war befreiend,
dennoch verhältnismäßig viel Raum zu bekommen, um Portionen von Freude hier
kathartisch auszudrücken und hinter mir zu lassen. Und ich empfand gleichzeitig
eine tiefe Dankbarkeit, dass ich als „Psychotiker“ überhaupt an dieser Therapie
teilnehmen durfte.


Vieles konnte ich auf den Matten in
der innigen Umarmung hinausschreien auf diesem Workshop. In der
Einstellungsarbeit bei Arlene brachte ich all meine Wut zum Ausdruck über das
Misstrauen, das mir entgegenschlug. „Es ist möglich gesund zu werden!“ Immer
wieder, wütend, voll Schmerz und letztlich befreiend „es ist möglich, gesund zu
werden!“. Dieser Satz war für mich über Jahre, ja, und ist noch heute ein Satz,
der eine meiner wesentlichen Grundhaltungen und -motivationen ausdrückt, für
meine Art, mit dem Leben umzugehen. Jahre später sagte mir Ingo einmal, dass er
es erstaunlich fände, wie ich mich weiterentwickelt hätte. Ich spürte meine
Entwicklung damals und hatte auch Verstand genug, um einigermaßen

einzusortieren, nach welcher
Gesetzmäßigkeit Heilung funktioniert. Psychotherapie, Homöopathie, EA – was für
kraftvolle Werkzeuge hatte ich kennen gelernt. (Und auf was sollte ich in den
nächsten Jahren noch stoßen!) Eines jedoch übersah ich damals ganz wesentlich:
ich war ein kranker, arbeitsloser Sozialpädagoge, der vor einer Umschulung zum
Tischler stand. Ich war jemand mit existentiellen Problemen und ein
Arbeiterkind aus einfachen Verhältnissen. Und ich bewegte mich in
therapeutischen Kreisen, wo kaum jemand 
finanzielle, existentielle Sorgen hat (so schien es mir jedenfalls). Ich
nahm den Klassenunterschied, ja ich formuliere es heute so, ich nahm den
Klassenunterschied zu den anderen „Bürgerskindern“ nicht wahr und bewegte mich
wie jemand, der wie selbstverständlich in Therapiefragen mitredete, dem es
jedoch nicht zustand – ich war ja auch noch dazu in der Hirsenmühle
„Frischling“, und so tauchte natürlich wieder eine ähnliche Problematik auf,
wie in der EA-Gruppe anfangs.

Mir wurde manches Mal in den Jahren
Anmaßung vorgeworfen und ich glaube jedoch heute, dass neben meiner
tatsächlichen anmaßenden Rolle (siehe Beschreibung bei EA) eine große Rolle
spielte, dass andere glaubten, sich über mich stellen zu können, weil ich
Arbeiterkind mit entsprechend klassenspezifischen Verletzungen, Einstellungen
und Haltungen war. „So jemand hat doch keine Ahnung...“ oder wie ich es im
gerade beendeten „Enlightenment Intensive“ (November 1995) mal ausdrückte, ich
bin jemand, der „außen pfui und innen hui ist“. Viele Menschen sehen ja nur das
äußere – und da sind Casriel-Gruppen und Therapeuten nicht anders als normale
Menschen. Um Ingo gegenüber klar zu machen, dass ich nicht doof bin, habe ich
ihm deshalb auch einmal mein Diplom-Zeugnis als Sozialpädagoge als Kopie zum
Fragebogen beigelegt: bis auf eine Zwei nur Einsen.

Zwei witere zentrale Erfahrungen dieses Workshops will ich hier noch ausführen. Sie
haben mich längere Zeit getragen.

 

Zum einen eine Konfrontation
(Anm.), die ich erhielt. Angela, die als Co-Therapeutin während der
Mattenarbeit im Raum blieb, konfrontierte mich mit ihrer Freude. Sie schrie mich
mit ihrer Freude an und sagte, sie freue sich, dass ich da sei. Jetzt beim
Schreiben kommen mir noch die Tränen, weil es so gut tat. Wie viel Misstrauen
bin ich in all den Jahren begegnet, wie selten hat jemand so klar zu mir
gesagt, dass ich willkommen sei. Das tat gut und gab Kraft, für lange Zeit. Ich
habe Angela dieses Jahr (1995) auf dem Pfingsttreffen in

Bd Herrenalb wiedergetroffen. Es
war sehr schön und die Umarmungen taten sooo gut.

Die zweite wesentliche Erfahrung
war ein Einstellungssatz, der mir auf meiner letzten Matte entfuhr: „Ich bin
da, ich sag’ `Ja“. Mit diesem Satz spürte ich eine tiefe Bejahung zu allem, was
auch noch geschieht. Es hatte sich vieles ereignet auf diesem Workshop, ich war
befreiter und offener geworden, fühlte mich bestätigt in meiner Art zu sein und
den Prozess zu nutzen, aber ich ahnte auch, dass noch sehr viel vor mir lag.
Mit diesem „ich bin da, ich sag Ja“ begann ein neues Vertrauen in den Weg, das
mich ganz langsam, aber doch stetig wachsend hin zu einem wertfreien Stehen
lassen des jeweils Gegenwärtigen führte. Der Leitsatz von EA „Annahme,
Aufmerksamkeit, Aktivität“ gewann besondere Bedeutung für mich usw. .


 

Erinnerungen
aus 1989: Heilung aus Psychose/ Kapitulation und nüchterne Grundsteinlegung u.a.
unter dem homöopathischen Mittel Veratrum Viride

 

7. Offene Sinne (Sommer 1989)

 

Am 17.Juni 1989 kam ich also von
meinem Workshop nach Hause, erfüllt von intensiven Erfahrungen, sehr offen mit
meiner Wahrnehmung, voller Kraft und Ruhe, aber auch hellwach gegenüber all
dem, was um mich herum geschah.

Am nächsten Tag, dem 18.Juni
schrieb ich nach längerer Zeit mal wieder ein deutsches Lied, allerdings
zunächst als Gedicht. Es begleitete mich lange Zeit und drückte die Offenheit
und Zuversicht aus, die ich damals empfand. Ein Thema spielte noch keine so
große Rolle damals: Grenzen – aber dazu vielleicht später.


 

(Den Text des Liedes streiche ich
hier, um meine Anonymität halbwegs zu schützen)

 

Ich meinte es so, wie ich es
damals geschrieben hatte. Das Lied wies mich bereits auf ein Thema hin, das für
mich im Juli größere Bedeutung bekommen sollte: Demut.

 

Am gleichen Tage war es wohl, dass
mit der Post ein Kettenbrief kam dem ich „natürlich“ äußerste Bedeutung beimaß.
Ich meditierte und sann über den Text, der Glück versprach, wenn ich gewisse
Anweisungen befolgte. Durch meine erste Psychose und jetzt, durch die mit der
Dynamischen Meditation geförderte Art wahrzunehmen und zu denken, las ich eine
Doppeldeutigkeit aus den Worten heraus.


Neben einer geradlinigen Art gibt
es noch eine Art Analogdenken, oder Querdenken, wie ich viele Jahre später
einmal auf wissenschaftliche Art beschrieben fand in dem Buch „Meine Psychose,
mein Fahrrad und ich“. Aufgrund dieses für „Normaldenkende“ nicht
nachvollziehbare „Querdenkens“ – um einmal bei einem Begriff zu bleiben – las
ich hinter und zwischen den Zeilen des Kettenbriefes manch geheimnisvollen
Inhalt, der mich tagelang beschäftigte. Ich handelte nach den Anweisungen des
Kettenbriefes, verschickte ebenfalls Kopien, um mich nach zehn Tagen von dieser
„meditativen Auseinandersetzung“ zu verabschieden. In der Zwischenzeit hatte
ich selber einen Kettenbrief entworfen, den ich „unters Volk“ brachte. Der
Grundsatz „Loslassen und Gott überlassen“ von EA half mir, auch von diesem
Kapitel Abschied zu nehmen. Alles in allem blieb mir damals jedoch die
Erfahrung mit dem Kettenbrief unheimlich.

 

Und langsam geriet ich auch wieder
in einen Strudel hinein, der mich überflutete. Wohin mit meiner Kraft, die ich
in mir wahrnahm, wohin mit meiner feinsinnigen Wahrnehmung. Bald stand meine Umschulung
zum Tischler an und da musste mein Kopf auf etwas anderes ausgerichtet sein,
als auf „große“ Philosophiererei, Meditation und Künstlertum. Diese Frage
drängte ebenfalls in mir und zu allem bekam ich von meinem homöopathischen Arzt
eine Hochpotenz, die es in sich hatte: Veratum Viride XM.


Mein Leben lief in der Tat wieder
in Hochpotenz ab. Ich nenne diese Zeit im nachhinein meine zweite Psychose
(beziehe ich die Phase vor dem Workshop mal mit ein) , denn meine Wahrnehmung
und überschüssige Aktivität führte wiederum zu Unruhezuständen, die ich kaum
aushalten konnte. In dieser Zeit habe ich von EA, dem Programm, den Meetings in
Herford, Bad Salzuflen und Bielefeld so viel bekommen, dass ich heute mit
Dankbarkeit, Schmerz und Liebe an diese Zeit zurückdenke. Ohne EA und die
Menschen, die die Gruppen getragen haben, wäre ich in dem aufgewühlten und
bitteren Prozess, der jetzt anstand, verzweifelt alleine gewesen und mir wäre
wohl nichts anderes übrig geblieben, als die Psychiatrie in Anspruch zu nehmen zu
den Bedingungen, die dort herrschen. Das ist mir erspart geblieben und ich
konnte meinen Weg weitergehen, so hart und brutal es jetzt auch werden sollte.
Veratum viride hat wohl etwas mit Wahrheit zu tun und mit der wurde ich in den
nächsten drei Monaten knallhart konfrontiert. Nochmals hieß es “Wahrnehmen
heißt leiden“, wie es Aristoteles so klar formulierte. Und jetzt stand ein Thema an, an dem keiner vorbeikommt: Grenzen.

Zuächst genoss ich im Juni noch
einmal einen Auftritt als Clown. Die Gröchtenhütte, sprich Heinz Thies, hatte
mich engagiert für ein Kinderfest im Rahmen der Ferienspiele. Für die
Teilnehmer einer Behindertenfreizeit und Kinder der Stadt Pr. Oldendorf dachte
ich mir ein Programm mit Theater, Clownerei und Feuerspucken aus, angelehnt an
frühere Auftritte 1986/1987. Ich registrierte, dass ich mit meinem Auftritt
viele amüsierte; doch einige von den „normalen“ Kindern konnten nicht am Ball
blieben und wandten sich während meiner schauspielerischen Bemühungen anderen
Spielen zu. Ich war wohl nicht „spannend“ genug – jedenfalls war ich doch etwas
enttäuscht von der abbröckelnden Zuschauerschar. Mit am schönsten an diesem Tag
war das Wiedersehen mit Michael Strathmann und Michelle Freytag, zwei
Spastikern, die mit schwerster Behinderung leben. Mit ihnen hatte ich
wunderschöne Zeiten und viel Spaß in meinem Anerkennungsjahr 1985 in der
Gröchtenhütte erlebt.

Ansonsten sann ich im Juli, dem
„siebten“ Jahresmonat viel über das Thema Demut nach. Der siebte Schritt des
Zwölf-Schritte-Programms hat Demut zum Inhalt. In meinem christlichen Glauben
spielte Demut eine große Rolle und ein Brief meines Arztes aus der Kur, Joachim
Kempff reihte sich nahtlos in meine Betrachtungen dazu ein. Schließlich führte
ein Besuch meiner Schwester Monika dazu, dass ich ein Lied schrieb mit dem
Refrain „Only by humility I can reach equality only by equality harvest is
humanity“ (Dt. Nur durch Demut erreiche ich Gleichheit, nur durch Gleichheit
erreiche ich Menschlichkeit“).


 

H u m i l i t y

 

Refrain:


Only by humility I can reach equality

Only by equality harvest is humanity

I am hurt and I cry

Out my rage I ask why

Do you value how I am?

Do you judge, do you damn?

I feel lowered and I ask

Don’t you have a better task?

Than to watch and spy out me?

Who I am you cannot see.

 

I am hurt and I cry

Out my fear I ask why

Can't you accept how I am?

Do you control like a dam?

I feel little and I ask

Don’t you have a better task

Than to care and order me?

I don’t like I try to flee.


I am hurt and I cry

Out my pain I ask why

Can’t you love me as I am?

Do you want that I lam?

I feel lonely and I cry

I feel helpless I ask why

People cannot live in peace?

I restrain don’t want to freeze.

 

I am hurt and I cry

But I feel and can think why

We are helpless to share joy

We still play girl and boy.

We are crazy we are fool

We are guilty to feel cool

Guilty to the world and god

By this way we will be mod!

 

Only by humility I can reach equality

Only by equality harvest is humanity

Only by humility we can reach equality

Only by equality we will earn humanity.


© Jürgen B. 1989


In meinem Lied „Offene Sinne“ hieß
es schon „ich bücke mich zum Boden und lausche auf den Staub“. Diese Worte im
Ohr gewann z.B. das Unkraut jäten in Vaters Garten, den ich ja jetzt zu
versorgen hatte, für mich eine besondere Bedeutung. Bückte ich mich in der
richtigen Haltung, bekam ich keine Rückenschmerzen. Mein Weg beinhaltete immer
wieder, auf alles zu achten, es wahrzunehmen und anzunehmen. So sah ich die
kleinsten Dinge in größerem Zusammenhang. Für den einen ist es vielleicht
verrückt – psychotisch, für den anderen tiefe meditative Lebenshaltung, wie
ZEN-Lehrer es lehren (siehe „Alltag als Übung“ von Karlfried Graf Dürckheim). A
b e r, streue ich hier mal mit dem tödlichen Wort „aber“ ein, ist es mein Job,
mein Weg, in Meditation zu leben??? Mein Job, hinter den Sinn der Dinge zu
schauen und nachzusinnen? Mein Job, ein religiöses Leben zu führen? Für
Psychiater ist ein solches Leben verrückt, für meine Schwester Heidi wirkte ich
wieder manisch, wie ich beleidigt wieder einmal hören musste. Ich fühlte mich
geleitet und geführt – bei allem Schmerz, aller Unruhe, allem Zweifel. Ich
spürte wie „Veratum“ immer mehr Ernüchterung aus meinen Knochen holte. Der
Brief von Joachim (ich erwähnte ihn schon oben) war ein großes Geschenk für
mich. Ich hatte ihm wohl im Mai/ Juni über meine euphorischen Erkenntnisse über
Kapitulation und den Gewinn meines manisch-depressiven Zusammenbruchs 1987/88
und den nun gefundenen „spirituellen“ Weg einen begeisterten Brief geschrieben.
Ich teilte ihm mit, dass ich sehr glücklich sei bei allem Schmerz. Und Joachim
antwortete mir nach einiger Zeit. Er schrieb nicht viel, aber das Wesentliche.
Er sendete mir die Kopie einer Tarot-Karte mit den dazugehörigen Erläuterungen
aus dem Buch „Tarot“ von Elisabeth Haich. Päng. Es war der Turm. Ich fühlte
mich auf eine Art verstanden, die mich ganz tief anrührte, glücklich machte und
mir eine große Portion Frieden und Einsicht gab. Ja so war es. Ein Blitz war in
meinen Lebensturm geknallt, hatte das Gerüst meines früheren Lebens zerstört
und ich durfte weiterleben, mit einer Art Leben in mir, die etwas heiliges –
oder analog zur Karte „königliches“ in sich hat. Ich war noch nicht durch, ich
bin es heute noch nicht, aber darum ging es mir und geht es mir bis heute, das
ist mein Weg, unabhängig von Türmen zu leben und frei zu sein oder besser, wie
ich es heute im Jahr 2000 beschreiben würde, Türme zu achten, jedoch mit ihnen
zu leben im Bewusstsein, dass sie unter Umständen nicht ewig halten und krachen
können, der Halt also anderswo zu suchen ist, als im (eigenen) Turm.

Und doch, und dazu führte mich das
Zitat von Mohammed, das Joachim mir ebenfalls beifügte: „Vertraue auf Gott,
aber binde dem Kamel die Knie“. Was soviel heißt, wie Joachim anmerkte, „vertraue
auf Gott, aber was du selbst erledigen kannst, belästige Gott nicht damit“.

 

Ja, darum ging es von nun an,
dahin führte mich die Einsicht der nächsten Wochen, dass bei aller
Spiritualität in mir, bei allem Gottvertrauen für mich wesentlich war, dass ich
mich der irdischen Realität stellte, die Dinge, die vor mir lagen ohne
spirituelles Tamtam erledigte und würdigte, was das Leben von mir verlangte.

Mich dem nüchternen Leben stellen,
war etwas sehr schwieriges für mich. Ich sah es ein, aber was konnte ich
wirklich? All diese Einsichten gingen einher mit dem Ernüchterungsprozess, den
mir die Hochpotenz Veratum Viride XM abverlangte. Unter diesem homöopathischen
Mittel reduzierte sich alles auf eine sachliche Ebene, was für mich emotional
sehr schwierig war, bedenke ich meine bisherige Haltung, die vor allem von
einer emotionalen, vielleicht romantischen Lebensweise ausging. Ein neues
nüchternes Denken und Fühlen fing an, Raum zu nehmen in meinem Leben, dass
jedoch auch eine gewisse Wut in mir wachsen ließ, die ich jedoch schwer in
Worte fassen kann. Sie zeigte sich zum Beispiel in meinen Reaktionen in der
Berufsschule in den nächsten Wochen.

Es wurde jetzt ernst mit der
Umschulung. Am 1.August sollte ich beginnen, doch eine zunehmende körperliche
Erschöpfung in Form einer fiebrigen Sommergrippe, in der ich einen Tag sogar
meinen ganzen Schleim aus meinem Kopf herausschnupfte und erbrach, verzögerte den Beginn. Auf der einen Seite
fieberte ich der für mich idyllischen Tätigkeit als Tischler entgegen, auf der
anderen Seite hatte ich einen höllischen Schiss.

Ich hatte sehr viel Sympathie für
den alten Tischlermeister, den ich mir ausgewählt hatte – er war noch ein
Könner seines Fachs. Und doch gerade bei dieser Auswahl zeigte sich wieder mein
Größenwahn. Ich war der feinen, Konzentration abverlangenden Arbeit gar nicht
gewachsen, erst recht nicht einem solch perfekten Meister der alten Schule. Es
war viel zu schwer für mich, mit meiner Aufmerksamkeit und Konzentration bei
dem zu bleiben, wo meine Hände gerade waren.

Und in der Schule? Der
Berufsschule? Ich kam mir etwas komisch vor unter den einfachen Jugendlichen.
Und was die Lehrer erzählten, vor allem ein Lehrer in Wirtschaftskunde, der im
kirchlichen Raum engagiert ist, und der mir persönlich sehr sympathische
Religionslehrer, den ich seit Jahren kannte. Wie er mit dem Religionsunterricht
schluderte, schwammig und unvorbereitet daherredete – wo mir aus meiner Sicht
Religiosität doch so wichtig war. In mir kochte die Wut und mein Verstand gebot
mir das Schweigen.

In zweieinhalb oder dreieinhalb
Wochen Umschulungsalltag prasselten mir Unmengen an Eindrücken entgegen, die
ich nicht schaffte, zu verarbeiten. Außer EA hatte ich keinen Raum, etwas
auszusprechen. Körperlich war ich geschwächt und wurde ich schwächer. Ich fraß
viel Wut in mich hinein. Bei alledem zögerte ich jedoch fahrlässigerweise einen
Anruf bei meinem homöopathischen Arzt hinaus, denn ich hielt es ja noch aus.
Der Erkenntnisgewinn dieses Ernüchterungsprozesses war ja sooo faszinierend. Ich
spürte, ich brauche diese Nüchternheit. Außerdem begann ja gerade eine
ambulante Casriel-Gruppe bei Karl-Heinz und Elisabeth, von der ich mir Hilfe
und Stützung versprach. Hohe Erwartungen, die nicht erfüllt werden sollten. Ich
hätte mindestens einen Menschen gebraucht, der mich kraftvoll und liebevoll ein
Mal gehalten hätte, damit ich meinen Schmerz und meine Wut geschützt hätte
herausbrüllen können. Wie schwer war und ist es noch heute, das Erlebte in
Worte zu fassen! Mit meiner ausgezehrten Bedürftigkeit schreckte ich jedoch ab
und ich bekam sogar in der Therapiegruppe 
herabkanzelnde Worte zu hören.

Vor allem an einem Punkt lag für
mich die Freude über eine tiefe spirituelle Erfahrung und der Schmerz über die
körperliche Erschöpfung dicht beieinander. Als ich fast am Ende war mit meiner
Kraft, alles auszuhalten und ich in mir nach Einstellungssätzen spürte, die mir
weiterhelfen könnten, kamen aus meinem Inneren die zwei Worte „ I c h   b i n “. Es war

nichts mehr von mir geblieben,
außer dieses „Ich bin“. Ich war „Ich bin“, ich fühlte „Ich bin“, ansonsten war
nur noch ein letztes Abspulen dessen, was mir der Alltag an Notwendigstem
abverlangte. Das „Ich bin“ tat weh, „höllisch“ weh, es war kaum auszuhalten –
und doch es war eine so zentrale Erfahrung, vielleicht die zentralste Erfahrung
in meinem Leben. Meine Freude bestand damals darin, dass ich vor dem
Hintergrund der von Walter Lechler beschriebenen drei zentralen
Grund(lebens-)einstellungen „ich bin“,
„ich brauche“, „ich bin berechtigt“ (nach Lechler/Lair „Von mir aus nennt es
Wahnsinn“) wusste, dass ich an einen zentralen Schnittpunkt gekommen war. Das
im Frühjahr 1989 erfahrene „ich brauche“ hat schon viel in meinem Leben
umgepolt, angefangen mit meiner Hinwendung zu den EA-Gruppen. Jetzt spürte ich,
dass dieses „ich bin“ mindestens ebenso zentral ist.


Wie das „ich brauche“ rollte
wieder eine neue Lawine an Gedankengängen an. Aber es folgte eine Hinwendung
zum Schlichten, zum Abgespeckten. Und es hatte etwas von Fakt. Es ist Fakt,
dass „ich bin“, es ist dem nichts hinzuzufügen. Und was darüber hinausgeht im
„Schönen“, wie im „Unvollkommenen“ ist kleines bescheidenes Beiwerk und
irgendwie unwesentlich. Entscheidend ist, dass „ich bin“.
Ich bin“ – so nackt wie diese
Worte.

 

In einer abendlichen Gruppensitzung der ambulanten Therapiegruppe saßen wir in der Anfangsrunde, in der jeder sein
Gefühl und seinen aktuellen Einstellungssatz sagen sollte. Als ich dran war,
sagte ich „ich bin und ich fühle Schmerz“. Anschließend wurde ich von Elisabeth
heruntergekanzelt. „Was heißt hier „ich bin“ ?“, „Das sagt doch gar nichts“ in
einem Tonfall, den ich verächtlich empfand. Ich konnte darauf nichts erwidern,
denn erklären konnte ich diese Worte nicht. Ich hatte von ihr erwartet, mir
ersehnt, dass ihr die Bedeutung bewusst war. Leider hatte ich mich getäuscht.
Ihre Reaktion empfand ich als billig, schwach und unqualifiziert. In dieser
Härte habe ich es empfunden. Sähe sie heute den Hintergrund, würde es ihr
vielleicht leid tun. Sie war und ist für mich eine sehr liebevolle und
leidenschaftliche Therapeutin. Leider saß Karl-Heinz damals schweigsam daneben,
auch von ihm bekam ich keine Rückendeckung.

 

Mit meiner „Ich bin“ – Erfahrung
blieb ich allein, wie mit so vielem. Sie war jedoch die Talsohle meines Lebens.
Was hatte ich an Ballast bis dahin nicht schon alles abgeworfen? Jetzt galt es,
mich allmählich neu einzukleiden.

Während der soeben geschilderten
Gruppenerfahrung war ich schon wieder krankgeschrieben, weil mir die Kräfte für
die Arbeit ausgegangen waren. Ich hatte an einem Morgen bei einer Arbeit an
einer Maschine viele Werkstücke falsch behandelt und großen Schaden
angerichtet. Ich war verzweifelt. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Danach gab ich es erst mal auf, und dabei sollte es bleiben, denn die Hoffnung
auf baldige Besserung war trügerisch.

 

Als ich daraufhin endlich und viel
zu spät meinen homöopathischen Arzt Erwin Tribbe anrief, war er in Urlaub und
ich allein. Am Montag darauf war die besagte Casriel-Gruppensitzung, die für
mich enttäuschend ablief und danach ging es mir von Tag zu Tag körperlich
rapide schlechter. Ich baute auf eine Art und Weise ab, die mich verzweifeln
ließ. Mein Kreislauf wurde schwächer und schwächer und das „Ich bin“ wurde zu
einem Strohhalm, an dem ich mich festhielt. Nie hätte ich mich jetzt einem
anderen Arzt anvertraut, dazu hatte ich noch zu bittere Erinnerungen an meine
hilflose Vorstellung in der Thüner-Praxis im Frühjahr 1988. Wie ernst diese
Tage waren, bekam ich später einmal bestätigt, als ich bei meiner Schwester
Monika in einem homöopathischen Fachbuch las, dass dem Autor einmal ein Patient
unter Veratrum Viride weggestorben war.


In Todesnähe sollte auch ich
kommen. Ich werde nie vergessen, wie ich (ich glaube an einem Donnerstag)
endlich Herrn Tribbe an der Leitung hatte, wohl in der Mittagszeit. An diesem
Donnerstag war ich bereits sehr geschwächt und ich war tief erleichtert,
endlich mit der einzigen Person sprechen zu können, der ich vertraute. Er
diagnostizierte Sulfur als das anstehende Mittel und sagte mir zu, es mir bis
zum nächsten Tag mit der Post zu schicken. Den restlichen Tag verbrachte ich
mit abnehmender Kraft fast nur noch liegend in meinem „Ich bin“. Zum ersten Mal
in meinem Leben spürte ich an diesem Tag Todesangst. Ich wurde schwächer und
schwächer, mein Herz wollte nicht mehr, mein Körper lag darnieder. Bis zum
nächsten Tag. Mit der Post kam das
versprochene homöopathische Mittel und in Stundenfrist war ich zu meiner großen
Erleichterung wieder auf den Beinen. Doch nun begann eine neue Schaukelpartie
...


In mir wuchs jetzt wieder dieses
übersprudelnde, ruhelose und doch kraftvolle Element. Zunächst half es mir,
wieder auf die Beine zu kommen. Ich war froh. Die Herz- und Kreislaufschwäche
war wirklich in wenigen Stunden wie weggeblasen und ich genoss die
wiedergewonnene Aktivität.

 

Meine Unruhe machte mir jedoch in
den nächsten Tagen zu schaffen. Ich erinnere mich noch an den Dienstagmorgen.
An diesem Tag fuhr ich nach Bielefeld, um die am Morgen stattfindende EA-Gruppe
zu besuchen. In meinem Wortbeitrag „quoll ich über“ mit meiner Wut/Kraft und
Liebe. Wohin damit??? Zumindest eine Gruppenteilnehmerin spiegelte mir, dass
sie mich toll fand. Ja, ich hatte wieder einer Energie, mit der ich auch
begeistern konnte. Ja und? In den nächsten Tagen kam ich dann wieder an einen
Punkt, an dem ich meine Unruhe nicht aushalten konnte. Eine rasende Unruhe, die
mich fast zur Verzweiflung brachte, wie im Frühjahr 1988, als ich die
lautstarke Vorstellung in der Arzt-Praxis abgegeben hatte. Aber diesmal war ich
vorbereitet. Ich hatte mir ja im Frühjahr privat Librium besorgt. Mit diesem
Beruhigungsmittel konnte ich den unerträglichen Zustand auffangen, Herrn Tribbe
anrufen und auf das Eintreffen des nächsten homöopathischen Mittels warten. Es
kam am nächsten Morgen – wieder Veratrum viride, diesmal jedoch in einer noch
höheren Potenz, eine C50 000. Librium brauchte ich nun nicht mehr, ich kam gut
zur Ruhe und Ernüchterung. Jetzt begann eine „langweilige“ Zeit. Meine heftigen
Emotionen waren vorüber und ich musste erst mal verdauen, was alles so passiert
war. Ein wichtiger Aspekt in bezug auf den Abbruch meiner Tischlerumschulung
soll an dieser Stelle noch hinzugefügt werden. Unter der 10 000er Gabe von
Veratrum viride ist mir ein Thema hochgekommen, dass auf meine Entscheidung,
die Umschulung zum Tischler zu machen, ein neues Licht warf. Ich hatte mich für
diese Maßnahme aus verstandesmäßigen Gründen entschieden. Ich glaubte, durch
das Erlernen dieses bodenständigen Berufes einen wesentlichen Beitrag für meine
Gesundung zu leisten. Dazu hatte ich mir noch einen der besten Meister im
Umkreis ausgewählt – wie grandios von mir – und mir noch die Berufsschule
zugemutet. Ich fühlte mich der Qualität des Betriebes und des Meisters nicht
gewachsen, mich machte die Berufsschule wütend und schließlich zwei Jahre
Umschulungslohn (etwa 1400.-DM netto) waren ein erheblicher Einkommensverlust.
Das verlorene Geld hatte ich nicht mehr für teure Workshops, die ich weiterhin
dringend brauchte, um gesund zu werden.

 

Ich war also in einer Zwickmühle,
wenn ich alles nüchtern betrachtete. Mein wahres Ziel war nicht Tischler zu
werden, sondern gesund zu werden. Die Umschulung kostete mich viel, sehr

viel Kraft - und viel Geld, wenn
ich die Möglichkeit betrachtete, als einfacher Arbeiter ein wenn auch
bescheidenes Einkommen zu haben. Wem konnte ich das so sagen? Niemand – denn
ich war ja „krank“ und musste mein Leben darauf abstimmen, da war die
Umschulung doch vernünftig – oder?

Als ich versuchte, in der akuten Krise kurzfristig einen
Workshop in der Hirsenmühle zu belegen, um dort Hilfe zu bekommen, war alles
belegt – keine Chance. (Dies war ein Aspekt meiner Lebenswirklichkeit, in den
Momenten, wo ich dringende Hilfe benötigte, gab es nur Medizin).

 

8. „Ich will leben!“ (Herbst 1989 bis Dezember 1989)

 

Meine Klärung der Gesamtsituation
war also, dass ich den Ausweg aus der Zwickmühle in der Verzweiflung und
Arbeitsunfähigkeit fand. Ein bitterer Ausweg.

 

 

 

Unterdessen bekam ich unter
Veratrum viride ein dickes nässendes Ekzem, dass sich unter meiner rechten
Achselhöhle ausbreitete. Ich hing zu Hause ´rum, rauchte, spielte nächtelang
„Risiko“ mit mir allein, legte Patiencen oder guckte Fernsehen. Ich schämte
mich sehr. Für mein Kranksein, meine Unfähigkeit und dafür, dass ich jetzt so
war, wie ich war. Was hatte ich in meiner Jugend und als politisch aktiver
Jungdemokrat für hochtrabende Reden gehalten, wie aktiv andere ihr Leben
gestalten sollten. Und ich selbst? Jetzt hing ich nur herum und wartete auf
Besserung, die von irgendwoher kommen sollte. Ich ließ mich resigniert von Dr.
Hartmann wieder auf mein Antidepressivum Saroten einstellen und meldete mich
für einen Workshop in der Hirsenmühle an.

 

 

 

Im Oktober oder November war es
soweit. Ingo Gerstenberg und Hans-Rudi Ganser führten ihn durch: „Casriel und
Familienaufstellungen“. Depressiv und nikotinumhangen verschlossen war ich
diesmal ein ganz anderer, als im Juni. In der Gruppe kam ich ganz normal gut
klar – wie schön ist es doch, sich in der Gemeinschaft zu fühlen, gemeinsam stöhnen,
gemeinsam rauchen, im passiven Leiden war es einfach, „Gemeinschaft“ zu finden.
Was hatte ich davon für den „Alltag“? Für mein Gefühl war auf diesem Workshop
wenig passiert. Ich war wenig aufgewühlt und doch gab es neben der Bestätigung,
ganz normal zu sein – wenn auch normal depressiv – zwei wesentliche
Erfahrungen, die lange Nachwirkungen hatten und zu neuen Entscheidungen
führten.

 

 

 

Die eine Erfahrung hatte ich auf
der Matte mit meinem Satz „Ich will leben“. Ich fühlte mich ja so taub und
gefühlsleer und mochte mich so gar nicht leiden. Ich will leben und lebendig
sein, war mein Wunsch. Auf der Matte geriet ich in einen wahnsinnigen Schmerz
und eine riesige Wut. „Ich will leben, ich will leben, ich will leben“, schrie
es aus mir heraus. Wie wild strampelte ich mit den Beinen und trat mit den
Füßen auf die Matte. Ich hatte das Gefühl, in einem Überlebenskampf zu sein.
Aus meinem „Ich will leben“ wurde ein „Ich will einfach leben“ und bei diesen
Worten kam mir zwischendurch auch die Doppeldeutigkeit des Satzes in den Sinn.

 

 

 

Nach der Matte war ich erschöpft
und auch verwirrt – woher kamen diese heftigen Emotionen? Was war da los? Ich
kaute noch lange daran, Tage, Monate, Jahre. (Anm.) Mir kamen zwischendurch
Antworten, wesentlich war eine, die mir lange Zeit später bewusst wurde: Mit
dieser Matte hatte ich mich neu entschieden zu leben – mit all den
Konsequenzen,

 

die die Entscheidung mit sich
bringt. Wie sagte Ingo auf diesem Workshop einmal zu der Mutter eines
erwachsenen, drogensüchtigen Sohnes? „Jeder Mensch wird einmal im Leben vor die
Frage gestellt, ob er sich für das Leben entscheiden will. Diese Entscheidung
kann ihm niemand abnehmen.“ Mit dieser Matte auf meinem ansonsten von mir
zeitweise abwertend betrachteten Workshop habe ich mich entschieden. (Gut so)

 

 

 

 

 

Eine zweite wesentliche Erfahrung
wurde durch die Teilnahme an der Familienaufstellung bei Hans-Ruedi möglich. Es
war nicht meine Aufstellung. Davon ist bei mir nicht viel hängen geblieben und
sie hat nichts erkennbares bewegt (ganz anders als meine spätere Aufstellung im
Mai 1994). Für mich war die Zeit noch
nicht reif.

 

 

 

Eine andere Gruppenteilnehmerin,
ich glaube, sie hieß Agnes, stellte ihre Familie, Eltern, Onkel? , und acht
Brüder. Als sie alle so mit Gruppenmitgliedern als Stellvertretern im Raum aufgestellt hatte, fragte sie der
Therapeut Hans-Ruedi: „Hatte Deine Mutter mal eine Fehlgeburt?“ „Pläng“ machte
es bei mir. Wie kommt der denn auf so etwas? Ich war verwirrt, erstaunt,
einfach baff. Das war eine Dimension von Therapie, die mir neu und erschreckend
war. Hans-Ruedi stellte dann alle Familienmitglieder im Kreis auf und ordnete
neben Agnes ein hockendes Mädchen, das die „weibliche“ Fehlgeburt darstellte,
denn Agnes hatte seine Frage bejaht, was wesentlich zu meiner Verwirrung beigetragen
hatte. Es war ein friedliches Bild und Agnes, die am Schluss ihre eigene
Position eingenommen hatte, fühlte sich wohl, in Frieden mit ihrer Schwester an
der Seite.

 

 

 

„Was prägt einen denn noch alles?“
war einer meiner wesentlichen Gedanken, die ich anfangs nach der mir zunächst
unheimlichen Familienaufstellung hatte. Letztlich hatte es noch einen anderen
Grund, warum mich diese Familienaufstellung so berührte.

 

 

 

 

 

 

 

Wochen nach diesem Workshop lag
ich morgens in meinem Bett auf dem Dachboden und sann, wie so oft, über mein
Leben nach. Mir gingen Erfahrungen auch von anderen Workshops durch den Kopf
und plötzlich kam mir wie ein Blitz eine verknüpfende Antwort auf drei Fragen:
Warum dränge ich so nach dem unsichtbaren und übersinnlichen, dem
„spirituellen“? Warum habe ich auf Matten mit zehn bis fünfzehn Jahre älteren
Männern so ein starkes Gefühl von Zuneigung, nahe sein wollen? Warum berührt
mich die Familienaufstellung von Agnes so stark? Der Blitz: Meine Mutter müsse
eine Fehlgeburt gehabt haben – das wäre eine Antwort, und diese Fehlgeburt wäre
wohl ein Junge. Ich entschloss mich, mittags meine Mutter zu fragen. Der
Gedanke ging mir schon durch Mark und Bein und gespannt wartete ich den Morgen
über. Mittags fuhren wir ins Restaurant Rose nach Vehlage. Als wir dort bei
einem Getränk saßen, fragte ich sie schließlich: „Mutti, hast du mal eine
Fehlgeburt oder eine Abtreibung gehabt?“ Wie begossen guckte sie mich an:
„Woher weißt du das? Ja.“ Und sie erzählte mir, dass sie ein Jahr vor der
Geburt meiner Halbschwester Monika schon einmal schwanger war von Monikas
Vater, das Kind jedoch aufgrund der extremen Belastungen während des Krieges
verlor. Sie sei danach sehr verzweifelt gewesen, so dass man sie sogar von der
üblichen Kontrolle durch die Polizei ausnahm. (Anm.) Ich hatte also einen toten
Halbbruder. Jedenfalls lebte ich mit dieser Einsicht von dem Moment an. Mal
nannte ich ihn Johannes, mal Bruder Wunderbar, wie in einem Lied, das ich ihm
später einmal widmete, mal war er nur mein toter Halbbruder. In meinem Herzen
hatte er nun einen Platz.

 

 

 



Anmerkung: Später erhielt
ich eine Antwort von meiner Schwester Monika, die mir auf meine Frage in bezug
auf dieses Erlebnis davon berichtete, dass meine Mutter in der frühen
Schwangerschaft, u.a. zu heiß gebadet habe, um eine Fehlgeburt herbeizuführen,
weil sie mich anfangs nicht haben wollte – sie war 39 und gerade aus dem
gröbsten Schlamassel mit den anderen Kindern heraus. Das war stimmig für mich,
und noch weitere Jahre später (1999) kam ich im Gespräch mit Dr. Hartmann und
auch mit meinem späteren homöopathischen Arzt Dr. Freiherr von Ungern Sternberg
darauf zu sprechen und beide betonten die Zentralität dieser vorgeburtlichen
Erfahrung.



 

 

 

 

 

 



 



Anmerkung: Vorsätzlich
herbeigeführte Fehlgeburten oder Abtreibungen waren damals strafbar und wurden
streng verfolgt. Daher wurden jede bekannt gewordene Fehlgeburt polizeilich
überprüft.



Wieder einmal hatte sich
ein Puzzleteil gefügt. Viel später las ich bei Bert Hellinger, dass
Fehlgeburten und Abtreibungen die Geschwister nichts angingen. Meine Erfahrung
ist anders.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Brother
Wunderbar

 

 

 

It was Sunday morning

 

I lay in my bed

 

Felt about the way the things

 

Make me sad and glad

 

I asked why I always look

 

To the facts behind

 

To the world behind the wall

 

Is there anything to find?

 

 

 

R.:

 

I found you

 

I found you

 

I found you

 

I found you

 

You have never lived

 

Although you are my brother

 

You were never known

 

But you were in mother

 

I love you

 

I love you

 

]: I know I know that you are

 

B r o t h e r   W u
n d e r b a r :[

 

 

 

Over thirty years

 

I’ve lived without you

 

Never I could ask for help

 

Say “How do you do?”

 

You were no reality

 

But you have been there

 

You were in our family

 

Unseen everywhere

 

 

 

Curious Sunday morning

 

Curious lunch with mother

 

Wondering she confirmed

 

My hunch of a brother

 

My truth is more complete now

 

I can give you space

 

In my life and I am glad

 

You have now a place

 

 

 

© Jürgen B.
28/30.01.93

 

 

 

Manchmal habe ich daran gedacht,
dass ich mir über zu viel den Kopf zerbreche, dass ich Therapie, Selbsterforschung,
dem Probleme wälzen zu viel Raum in meinem Leben gäbe und daher meine Defizite
im lebenspraktischen Bereich bestehen blieben. Und in mancher Begegnung wurde
meine „schwere Art“ der Lebensverdauung zum großen Hindernis. Es war für mich
immer wieder schwierig, mit anderen Menschen unbefangene Gemeinschaft zu haben
und auch eine große Liebe scheiterte daran. Aber zu all dem vielleicht später
mehr. Ich könnte jedenfalls all dies, was ich gerade schreibe, so nicht
berichten, wenn ich den Weg nicht so gegangen wäre. Das ist mein Leben, mit
großem Gewinn und einem großen Preis, den es mich kostet und gekostet hat.

 

 

 

Ein
Aspekt diese Workshops gewann doch noch Bedeutung. Darum möchte ich noch kurz
darauf eingehen. Für Hans-Ruedi waren Lieblingsmärchen aus der Kindheit eine
wesentliche Informationsquelle. Ich erzählte ihm, dass mein Lieblingsmärchen
„Die Geschichte von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen“ gewesen sei.
Da sagte er mir, ich hätte als Kind die Entscheidung getroffen, mir keine Angst
machen zu lassen.“ Lange kaute ich darauf herum und entdeckte mit der Zeit,
welchen Preis es mich gekostet hat, die Angst nicht an mich heranzulassen.
Keine Angst spüren heißt, in Gefahrensituationen unbedarft hineinzulatschen und
entsprechende Wunden davonzutragen. So sah mein Leben aus. Angst sehe ich heute
als etwas sehr wertvolles. Mit diesem Workshop begann ich, dieses zentrale
Gefühl zu achten.

 

 

 

Ich habe jetzt das wesentliche aus
meinem zweiten Workshop 1989 in der Hirsenmühle berichtet. Wie ging es weiter?
Ich blieb „depressiv“, hing zu Hause viel herum und blickte voller Angst und
Sorge in die Zukunft. Wie sollte es mit der Arbeit weitergehen? Keine Idee. So
verging Tag um Tag. (Heute im Juni 2000 
erinnere ich mich daran, dass ich ja vom Homöopathen auf Natrium
muriaticum eingestellt war. Das Kummermittel, was mir in den folgenden Jahren
noch viele Gefühle von Trauer und Schmerz – Schwere abverlangen sollte. Unter
diesem Mittel verschwanden meine grässlichen Ekzeme unter den Achselhöhlen,
aber meine Depression ist vielleicht auch darauf zurückzuführen. Diese Zeit war
schwere Trauerarbeit.)

 

 

 

Ich besuchte freitags die
EA-Gruppe in Herford und fuhr ab und zu in die Gruppen nach Bielefeld. Hier
fand ich Gemeinschaft und die Treffen taten mir sehr gut. Auch wenn mir meine
„dominante“ Rolle bei EA oft nicht gefiel. Dort empfand ich mich relativ stark
und doch war auch ich hilflos und bedürftig und sehnte mich danach, an die Hand
genommen zu werden. Um Hilfe zu bitten, „Ich brauche“ zu sagen, gelang mir
immer noch kaum.

 

 

 

Aber was wäre ich ohne EA in
dieser Zeit gewesen? Dort konnte ich mir so viel von der Seele reden. Und es
gab Menschen, mit denen ich eine Umarmung teilen konnte. Und davon hatte und
habe ich einen großen Bedarf.

 

 

 

Weihnachten und der Jahreswechsel rückten
näher. Eine Zeit des Bilanzziehens und des Blickens auf die Frage „wie
weiter?“. Es sah trostlos aus.

 

 

 

Drei oder vier Tage vor
Weihnachten bekam ich nachts einen der ganz wenigen Träume, an die ich mich
erinnern kann. Dieser Traum sollte eine große Bedeutung für mich gewinnen. „Ich schlief – im Traum – in der
Schlafkabine eines Flussdampfers. Mehrmals wachte ich auf, weil auf dem Schiff
kleine Feuer ausbrachen. Ich stand dann auf, löschte gemeinsam mit anderen die
Feuer und legte mich jedes Mal wieder aufs neue schlafen. Bis ich zum Schluss
in meiner Schlafkabine inmitten von Flammen lag. Das ganze Schiff brannte
lichterloh. Es gab nichts mehr zu löschen. Voller Entsetzen wachte ich wohl mit
einem Schrei aus meinem Traum auf.“

 

 

 

Die Panik, die ich in diesem Traum
empfand, saß mir noch tagelang in den Knochen. Bis ich am zweiten Weihnachtstag
das Weihnachtsgeschenk meiner ältesten Schwester Monika erhielt: ein Buch von
Irina Tweedie mit dem Titel „Der Weg durchs Feuer“. Noch jetzt beim Schreiben
spüre ich wieder ein Ziehen durch meinen Rücken. Wie damals, als ich mich
riesig freute, weinte und einfach glücklich war.

 

 

 

Wieder und gerade dadurch fühlte
ich mich ja auf meinem Weg bestätigt, wieder erhielt ich durch eine merkwürdige
Fügung Antwort und Trost auf meine Fragen. Allein das Öffnen des Geschenkes,
der Blick auf den Titel, war wie eine Erleuchtung. Der Traum und das Buch. Der
Traum vielleicht wie eine rätselhafte verschlossene Tür, die wesentlich war für
mich und jetzt das Buch, der Schlüssel passend zum Schloss dieser Tür.

 

 

 

„Der Weg durch das Feuer“, egal
wie mich der Inhalt des Buches später noch ansprechen sollte, „Der Weg durch
das Feuer“ – das war wohl mein Weg. Und dieses Bild, war für mich lange ein
Bild für das Ausbrennen des EGOs, des Stolzes und des Anhaftens an äußere
Scheinsicherheiten, vielleicht von heute (Juni 2000) betrachtet, für das
Aufgeben des falschen „Selbst“. Wie die Tarotkarte „der Turm“ ein erstes Bild
der Erläuterung gab, ein erstes Bild der Zustandsbeschreibung, so erhoffte ich
mir von diesem „Tagebuch der Schulung durch einen Sufimeister“ mehr
Orientierung für meinen Weg. Es schien eine Handreichung zu sein, wie im Sommer
das „kleine ökumenische Brevier“ eine Anleitung zum Beten war.

 

 

 

Lange Zeit zuvor hatte ich von
Reshad Field das Buch „Der Weg des Derwisch“ gelesen. Es hatte mich sehr
angesprochen und die dort geschilderten Erfahrungen eines westlichen Menschen
mit dem Sufi-Weg empfand ich als sehr ähnlich dem, was ich in meinen
„hellwachen Zeiten“ im November 1987 oder diesen Sommer 1989 erlebt hatte. Nur
dass ich nie einen lebendigen „Meister“ an meiner Seite hatte, mein Erleben
meist nicht einordnen konnte und im Rahmen meines Umfeldes den Anstrich „krank“
bekam. Ich akzeptierte nach außen ja irgendwann das Etikett „Manie“ und
„Psychose“ und das war es ja auch, ich akzeptierte jedoch nie die damit
verbundene Abwertung der Erfahrungen und Wahrnehmungen. In spiritueller
Literatur, wie hier bei Reshad Field, Irena Tweedie oder ich denke auch an die
Bücher von Carlos Castaneda (eins las ich mal an) wurden ebensolche
Erfahrungen, wie ich sie in schwieriger Umgebung machte, ganz anders
eingeordnet, als wie es unsere Psychiatrie tut (später erhielt ich aus
fachlicher Sicht noch weitergehende Erläuterungen in Stanislav Grof „Spirituelle
Krisen“). Nun ich will nicht zu sehr abschweifen, ich komme vielleicht später
darauf zurück.

 

 

 

Mit diesem „Wink mit dem
Zaunpfahl“, nämlich der „zufälligen“ Verknüpfung von Traum und realem
Alltagsgeschehen (hier: das Weihnachtsgeschenk meiner Schwester) erhielt ich
wieder Rückendeckung für meine Wirklichkeit. Mein Weg war hart, aber es war
mein Weg, ein realer, gangbarer und wertvoller Weg. Nach all meiner
Verzweiflung und

 

 

 

Hoffnungslosigkeit, die ich vor
Weihnachten empfand, hatte ich jetzt wieder einen Stern der Orientierung
gefunden. Mein Weg hieß nun „Bereitschaft auf Verzicht jeglichen spirituellen
Klimbims“ und Erlernen der Wirklichkeit, die für mich bitterschwer und hart
war. Ich war ein sehr verletzter, mit praktischen Gaben schwach ausgestatteter,
schusseliger Mann, der voller Scham über die eigene Lebensuntüchtigkeit war.
Ich war voller religiöser Erfahrungen und Einsichten und Hunger nach mehr, aber
mein „mehr“ bestand gerade im Verzichten auf all das „Höhere“. Denn was zählt
das “Höhere“, wenn ich meinen Lebensunterhalt nicht selbst verdiene, wenn ich
mit meinem Leib Raubbau betreibe (Rauchen, Fressen, Faulenzen und
„Nachdenken“), wenn ich nicht in der Lage bin, mich den Anforderungen von
Familie und Gesellschaft zu stellen?

 

 

 

Erst diese Tage fand ich beim
Durchblättern des gerade erstandenen Buches „Sufi-Wege zum Selbst“ von Idries
Shah eine herrliche Stelle, die auf meine wesentlichen Einsichten des Jahres
1989 zutrifft.

 

 

 

„Sagt der Schüler zum Meister:
„Ich habe wunderbare, höhere geistige Erfahrungen gemacht“, „Wunderbar“,
antwortet der Meister, „dann hast du diese Stufe der Entwicklung ja jetzt
hinter dir und kannst dich der Wirklichkeit widmen.“

 

 

 

Und das tat ich dann auch.