Beitrag für die ZEITSCHRIFT Kerbe Novemberausgabe 2010

 

( http://www.kerbe.info/files/Kerbe_ausgaben/2010-10-22_Kerbe4_10.pdf )

 

Nur nicht aus der Rolle fallen!? - Psychiatrisch tätig trotz eigener Psychiatrieerfahrung

 

„Vertrauen Sir mir doch, Sie brauchen Psychopharmaka, wie der Diabetiker sein Insulin“. Eindringlich redete meine Hausärztin auf mich ein, ich müsse doch akzeptieren, dass ich regelmäßig Medikamente nehmen müsste. Sie sprach von Lithium, das auch mein Arzt und Psychotherapeut aus meiner ersten stationären Rehabilitation in einer psychosomatischen Klinik im Abschlussbericht empfohlen hatte.

 

Drei Monate zuvor – wir schreiben das Jahr 1988 – hatte man mir bei meiner Entlassung aus der Psychiatrie die Diagnose „Zyklothymie“ gegeben. Seitdem bin ich auf eine ganze Reihe Diagnosen gekommen, von anderen gegeben oder auch von mir selbst gesucht und gefunden: Neurotische Depression, Neurotische Depression mit rezidivierender Dekompensation bei zyklothymer Persönlichkeit, Psychotische Episoden, Manie, Borderlinestörung, Posttraumatische Belastungsstörung. Besonders hilfreich für mich war der Begriff „spirituelle Krise,“ da er mir doch Möglichkeiten eröffnete, meinen bedrohlichen Erfahrungen auch neue positive Deutungsmöglichkeiten zu geben.. In diese Richtung geht auch die Einordnung meiner niedergeschriebenen Erfahrungen als „schamanische Krise“ durch eine Psychologin. Das waren natürlich Antworten jenseits des mir bis dahin begegnenden psychiatrischen Systems. Die ärztliche Diagnose nach Entlassung aus meiner letzten psychosomatischen Reha lautete: „emotional instabile Persönlichkeitsstörung retardiert“.

 

 

„Wer bin ich wirklich – Bin ich meine Diagnose?“ Für Fachleute aus Psychiatrie/Psychotherapie ist heute die Diagnosestellung sehr hilfreich. Habe ich eine Diagnose, bekomme ich ein Bild, wie ich Persönlichkeit, Verhalten, Störung, Behandlungsbedarf einschätzen kann. Es eröffnen sich Wege um therapeutische Maßnahmen und Behandlungsmöglichkeiten zu planen und – was mir heute als Profi wichtig ist – ich kann die Beziehung zum Patienten aktiv gestalten.

 

Bei all den Diagnosen Zyklothymie, Borderlinestörung, Manie, Psychose war es für mich als Betroffener im Kontakt mit anderen nicht unproblematisch: Für den schulmedizinischen, psychiatrisch denkenden Behandler stand die Manifestation der Krankheit im Raum, meine alternativen Behandlungswege – Homöopathie, Körpertherapie (Bonding), Familienstellen, EA-Selbsthilfegruppen – wurden zwar im besten Fall interessant gefunden und befürwortet, ich war jedoch immer wieder damit konfrontiert, ich müsse doch einsehen, dass ... Auch dass es für mich gut sei wieder in meinem Beruf als Sozialpädagoge zu arbeiten, wurde von Schulmedizinern aber auch von mir selbst immer wieder bezweifelt. Im privaten Kontakt wirkte mein offener Umgang mit meiner Psychoseerfahrung für andere manches Mal beängstigend. Natürlich war auch mein Verhalten in meinen beiden „Psychose-Phasen“ unheimlich, ebenso meine manchmal mangelnde Sensibilität für die Grenzen anderer. Zugegebener Maßen kokettierte ich auch gerne mal mit dem „Drama Psychose und Manie“, gab es doch dem aktuellen Stand meiner Genesung Gewicht. Und ich hatte ein Ziel: Das zu beweisen, was ich 1989 einer ganzen mir zweifelnd entgegentretenden Therapiegruppe entgegenschrie: „Gesundwerden ist möglich!“

 

Zur Genesung gehörte jedoch, bereit zu sein, mich von den „kranken“ Etikettierungen selbst zu lösen und das „Drama“ zu meiden. Ich musste lernen, mich immer dem aktuellen Genesungsstand („Nur für heute“) entsprechend zu verhalten, die gegenwärtige Realität immer wieder radikal zu akzeptieren und mich zunehmend zu verstehen, zu erfassen. Nur so waren Räume zu finden, in denen ich „Heilung“ mit entsprechenden Krisen durchleben konnte. Das war nicht immer leicht und auch später, als ich als schließlich als Suchttherapeut arbeitete, immer wieder eine Herauforderung.

 

Gute Anstöße, mich jenseits von kranken Etikettierungen selbst zu begreifen, gab mir viel später die OPD Diagnostik (Operationalisierte psychodynamische Diagnostik): Selbstwert- und Identitätskonflikt stehen bei mir im Vordergrund. Und schon bin ich bei zentralen Themen, die letztlich auch den Anstoß gaben, mich hier mit meiner Identität zu beschäftigen: als Psychiatrie- und Psychoseerfahrener, als Profi – und als Angehöriger und Freund psychisch kranker Menschen.

 

Diese Rollenvielfalt ist natürlich immer wieder verwirrend – für mich und andere: Bleibe ich zur rechten Zeit am rechten Ort in meiner Rolle? Wie sieht es mit meiner Loyalität zu anderen Betroffenen, zu Kollegen und Arbeitgeber aus? Welche Wirkung hat es auf meine Profi-Kollegen, wenn sie von meiner Betroffenen-Identität erfahren? Welche Wirkung bei den Patienten? Und wie bewältige ich meine Vulnerabilität, die nach wie vor zu mir gehört? Kann, darf ich mit dieser Vulnerabilität therapeutisch arbeiten, oder ist sie beängstigend für Kollegen, für Patienten? Positiv lässt sie sich auch als Empathie beschreiben, die heute eine meiner stärksten Ressourcen als Therapeut ist.

 

Letztlich boten Diagnosen für mich unterschiedliche Zugänge zum Verstehen meiner Persönlichkeit, meiner Identität. Sie gaben „Halt“ und Orientierung bis zu einem gewissen Grad – und sie waren natürlich Grundlage für die von mir gesuchte Behandlung im Rahmen des klinischen Rehabilitationssystems. Nur der „Kranke“ hat einen Anspruch auf Behandlung. Diagnosen konnten jedoch auch Heilung entgegenstehen, da Heilung etwas prozesshaftes, lebendiges ist – im Gegensatz zum statischen Bild einer Diagnose. Zu Heilung gehören Krisen, Erstverschlimmerungen, Symptome und Erschöpfung von der Durcharbeitung seelischer Prozesse.

 

Heute blicke ich auf über 20 Jahre Suchen und Finden und Erfahrung von Heilung zurück. Im Rahmen der Psychiatrie fand ich wenig Heilung, wohl Zeit zum Nachsinnen. Ich ging einen Weg, auf dem sich Baustein für Baustein mein Leben neu zusammensetzte. Ein Weg, auf dem ich Räume von Heilung, wirksamer Hilfe, praktischer Lebensbewältigung, und Räume von Sinn und Spiritualität entdeckte und neu ausfüllte. Und ich bekam auch immer mehr und neue Antworten auf meine Ursachen, bzw. auch allgemein Ursachen von Depression und Wahnsinn, wie auch zum Verständnis von Krankheiten allgemein.

 

Neuen Antworten bin ich teilweise euphorisch begegnet. Anderen war dies immer wieder suspekt. Andererseits durfte ich interessanten und wunderbaren Menschen begegnen, die mir in meinem Genesungsprozess auf unterschiedliche Weise hilfreich zur Seite standen und mich inspirierten – und durch die ich erleben konnte, dass ich mit meiner Wirklichkeit, mit meinem Verständnis von Genesung nicht allein in der Welt stand.

 

Seit 10 Jahren arbeite ich als Sozialpädagoge und Suchttherapeut in der stationären Entwöhnungsbehandlung. Vielleicht musste ich Suchttherapeut werden, um wirklich zu begreifen, was „Nüchternheit“ heißt. Täglich muss ich beim Einstieg in die therapeutische Identität die Balance halten zwischen meiner Rolle als Therapeut, der Einfühlung und Identifikation mit Ohnmachtsgefühlen von Patienten, sowie eigenen Ohnmachtsgefühlen: Ich kenne so vieles, was im klinischen Bereich nur begrenzt umsetzbar ist: aufgrund des Konzeptes der klinischen Rehabilitation, der Konzeption des jeweiligen Trägers, dem therapeutischen Verständnis der Kolleg(inn)en und der Motivationslage, des Störungsbildes und der Abwehrstrukturen der Patienten – der Betroffenen, denen ich mich eigentlich so verbunden fühle. Nicht zu vergessen, die stets begrenzte eigenen Kompetenz und der Kompetenz der Kolleg(inn)en. Heute kann ich sagen, „ ich bin gut genug“. Ich bringe meine mittlerweile nicht wenigen „Qualitäten“ und „Qualifikationen“ ein und ich stelle immer wieder nüchtern fest, es liegt nicht in meiner Hand jemand „zu retten“.

 

Manches habe ich in über 20 Jahren bewältigt, manches erreicht und manches habe ich hinter mir lassen müssen, auch verloren. Gewonnen habe ich vor allem Antworten. Antworten auf Fragen, die ich mir als Jugendlicher gestellt habe. Erreicht ist insbesondere eine Genesung, für die ich dankbar und stolz sein kann. Auf eines konnte ich gut verzichten: Auf Lithium und andere regelmäßig einzunehmende Psychopharmaka. Gut, dass ich meiner schulmedizinischen Hausärztin damals nicht vertraute.

 

Was gilt es heute mit dieser Erfahrung zu tun? Diese Frage bewegt mich immer wieder. Meine Wut auf das so allmächtige psychiatrische System, auf die herkömmlichen, „herrschenden“ Antworten auf Krankheit hat mich zunächst dazu gebrachtm Vorträge zu organisieren und gelegentlich auch von mir zu berichten. Zunächst zaghaft in einem Kleinkunstprogramm, später auch im größeren Rahmen für eine andere Wirklichkeit im Umgang mit seelischem Leid, mit Krankheit und Krisen einzustehen. Letztlich war mein Anliegen, für den Satz zu werben, den ich 1989 in einer Gruppentherapie hinausschrie: „Gesund werden ist möglich!“ Das ist mir ganz gut gelungen.

 

Mittlerweile habe ich aus verschiedenen Perspektiven auf meine Gesundungs- und Krankengeschichte geblickt, sie in Therapien, im Kontext meiner Arbeit als Suchttherapeut und in Weiterbildungen immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Am kraftvollsten war sicher für mich systemisches Denken, aus dem Familienstellen heraus, aber auch meiner ersten Weiterbildung als Sozialtherapeut-Sucht. Ich lernte in körpertherapeutischen Workshops (vor allem Bondingworkshops) etwas über Grundeinstellungen, kognitive Strukturierungen, mein „Inneres Kind“ und Aussöhnung mit den Eltern. Vor allem bekam ich Raum für den Ausdruck und die Durcharbeitung von Emotionen, Trost und körperliche Nachnährung.

Wertvoll erlebte ich aus meiner Weiterbildung zum Suchttherapeuten die Krankheitslehre der Integrativen Therapie, obwohl ich eine wieder neue Fachsprache lernen musste. Und natürlich könnte ich ein bisschen aus meiner Erfahrung der homöopathischen Diagnostik erzählen – aber hier verlassen wir ja schon wieder das psychiatrische System – leider.

 

Ich glaube, ich habe aus meiner Perspektive als Betroffener, Profi und Angehöriger einiges zu sagen. Ich habe eine ungewöhnliche Genesungsgeschichte zu berichten und ich habe einige Antworten zum „warum und wieso“ von psychischer Erkrankung, sowie Ideen, was zu tun sei. Wie bringe ich diese meine Erfahrung in die Welt - ohne wieder wie so oft mit dem Etikett „Betroffener“ stigmatisiert zu werden?

 

Ich habe mich entschieden, diesen Artikel unter einem Pseudonym zu veröffentlichen – letztlich um mich, den Therapeuten, den Profi und den möglichen Bewerber um einen Arbeitsplatz zu schützen. Zumindest in der breiten Öffentlichkeit.

 

Mein früherer Klinikleiter beantwortete meine Frage, ob er mich eingestellt hätte, wenn er bei meiner Bewerbung von meiner Psychoseerfahrung gewusst hätte, prompt und ehrlich: „Nein, ich hätte Dich nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen.“ Mein offenes Benennen meiner Psychoseerfahrung in Verbindung mit meinem Auftreten beim Vorstellungsgespräch seien jedoch überzeugend gewesen. Ich habe bei fast keinem persönlichen Vorstellungsgespräch meine Psychiatrieerfahrung verschwiegen. Ist das vielleicht arrogant? Gemäß dem Motto: „Ich will geliebt werden, wie ich bin?“ Die Rückmeldung bekam ich kürzlich. Dann müsste ich jedoch weiter Kraft aufwenden, um etwas zu verheimlichen. Ich werde in Zukunft von Fall zu Fall entscheiden.